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Der Eindringling: Roman (edition suhrkamp) (German Edition)

Der Eindringling: Roman (edition suhrkamp) (German Edition)

Titel: Der Eindringling: Roman (edition suhrkamp) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Raul Zelik
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vollfressen und kotzen gehen, wer weiß?, auf jeden Fall mit ihrem Schuldgefühl allein sein, für eine Prüfung lernen zu müssen und nicht genug dafür zu tun. Das ist es doch, was dieses Leben ausmacht, was es zusammenhält.
    Finde sie nicht, dass sie sich nur für bedeutungslosen Scheiß interessierten?
    Sie zuckt mit den Achseln, als verstehe sie die Frage nicht.
    Fil hat gebrannt, denkt er, der Vater hat für etwas gebrannt. Man sieht es den Fotos an, er wollte etwas, aber was wollen wir? Eine feste Anstellung, mehr als hundert Facebook-Kontakte, Sex, eine Frau, mit der man vielleicht einmal Kinder haben könnte, aber erst ab 35, Raum zur Selbstverwirklichung, zweimal im Jahr Trendsporturlaub: im Winter Snowboarden, im Sommer Kitesurfen …?
    Ich habe, sagt Daniel, das Leben meines Vaters als Kind immer scheiße gefunden. Ich habe mich dafür geschämt, wieer ist. Dass er in besetzten Häusern gewohnt hat, immer wie ein Jugendlicher angezogen war, aber jetzt …
    Sie nickt, blickt an Daniel vorbei auf den Bildschirm.
    Er war sehr politisch, hat immer das getan hat, was ihm gefallen hat.
    Learning from Lagos : Soll man, fragt sich Daniel, lernen, dass jedes Chaos seine Ordnung, seine Struktur besitzt? Man im größten Durcheinander doch noch ein System entdecken kann?
    Ich muss herausbekommen, wer der Vater wirklich ist. Wissen, was er gemacht hat. Was ihn bewegt, warum er so ein Leben geführt hat, ich muss wissen, warum er keine Zeit für mich hatte. Wieso er diese Frau in Rumänien mehr geliebt hat als Conny und mich. Vielleicht finde ich dann auch heraus, was an unserem Leben nicht stimmt. Lagos – wo liegt diese Stadt?
    Man müsse sich heute aber auch mehr anstrengen, mehr leisten, wenn man zurechtkommen wolle, wirft die Frau, wirft Sarah ein, und beißt erneut in ihr Brot, erneut bleibt der Käse zwischen den Zähnen kleben, wieder schwappt ein strenger Geruch von Schweiß und Verdauung durch die Küche.
    Es sei nicht mehr so einfach wie damals, als ihre Eltern jung waren, jobmäßig, sagt sie, und Daniel zieht das Teelicht heran, das auf der anderen Seite des Tisches steht und einsam vor sich hinflackert, beim Frühstück vergessen worden zu sein scheint. Er hält die Hand hinein, es dauert, bis er die Hitze spürt.
    Ob sie jemanden kenne, wechselt er das Thema, der einmal eine Transplantation gehabt, ob irgendeiner ihrer Verwandten einmal so eine Operation gehabt habe.
    Sie verneint.
    Es heiße, redet er weiter, mehr als die Hälfte der Patienten überlebten das erste Jahr; dass sie aber die ganze Zeit Medikamente schlucken müssten, damit der Körper das neue Organ, das ihn am Leben erhalte, nicht abstoße. Siebzig Prozent, fügt er hinzu, litten zwar unter Infekten, den Nebenwirkungen der Medikamente, müssten mit dem Ausbruch von Krebs rechnen, aber siebzig Prozent überlebten das erste Jahr.
    Für einen Moment hat Daniel das Gefühl, keine Luft zu bekommen. Fragt sich, wie es ist, keine Luft zu bekommen, spürt, ganz real, die Angst vor dem Tod.
    Wie viel ist man hinterher wohl noch man selbst? fragt er.
    Sie macht ein irritiertes Gesicht. Als werde er ihr allmählich unheimlich.
    Ich meine, wie sehr ist man wohl ein anderer, wenn in der Brust plötzlich ein anderer ist?
    Sie weiß es nicht.
    Mir wird schlecht, wenn ich mir das nur vorstelle. Sie sägen einem den Brustkorb auf, trennen die Aorta ab, klemmen die Gefäße an eine Maschine und fummeln dann in der offenen, aufgeklemmten Brust herum … Fleisch, das mit fremdem Fleisch, dem Fleisch eines Toten vernäht wird. Ich frage mich, ob es nicht besser wäre, sie ließen einen sterben.
    Sie beißt nicht mehr in ihr Brot, lässt die Schnitte auf dem Teller liegen, den stinkenden Époisses.
    Der Witz ist doch, schiebt er hinterher, dass wir das alles aus Krankenhausserien kennen, im Fernsehen alles schon mal gesehen haben. Wir sind mit diesen Dingen vertraut und haben trotzdem keine Ahnung davon, wir können uns nicht vorstellen, dass die Scheiße einmal uns betreffen könnte …  
    Wenn man immer daran denkt, wirft sie ein, würde man verrückt werden, oder?
    Und wenn man nicht daran denkt, sagt er, der Vorwurf ist nicht zu überhören, bleibt man dann immer normal?

VI
    Ich bin die Krankheit und die Medizin, ich bin die kanzeröse Zelle und das verpflanzte Herz, ich bin die das Immunsystem schwächenden Kräfte, ich bin die Enden der eisernen Fäden, die meinen Brustkorb zusammenhalten, und die Einspritzöffnung, die für den Rest meines

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