Der Eindringling: Roman (edition suhrkamp) (German Edition)
Lebens unterhalb meines Schlüsselbeins angebracht ist. Ich verwandle mich in den Androiden der Science-Fiction oder in einen Scheintoten.
Als er schon viele Stunden im Zug verbracht, eine Nacht im Liegewagen hinter sich und schlafend drei Grenzen überquert hat, als er vor dem Fenster die Schilder mit den langen, schwer aussprechbaren Ortsnamen vorbeifliegen sieht, voller Ö's und Z's, und dabei den Eindruck gewinnt, dass die Bahnhöfe mit jedem nach Osten zurückgelegten Kilometer dunkler, verfallener aussehen, als er, wenn er den Kopf gegen die Scheibe lehnt, das heftige Schlagen der Räder gegen die Gleise an der Schläfe spürt, die Fahrt immer weniger einem Dahingleiten, immer stärker einem Stolpern gleicht, einem Hin- und Herwanken, überlegt er endlich, was er von dieser Fahrt eigentlich erwartet, was an ihrem Ende geschehen soll, was für ein Ziel er mit ihr verfolgt.
Er hat sich Michaelas Mail besorgt, ihren Namen und die Stadt Sibiu gegoogelt, eine Adresse gefunden und tatsächlich an sie geschrieben, hat sich einen Account unter dem Namen Elias eingerichtet, seinem Zweitnamen, sie soll nicht gleich wissen, wer er ist, und dann lang an den Formulierungen gefeilt: dass er ein Bekannter Beules sei, sie es komisch finden müsse, dass er ihr schreibt, aber dass er ein Semester im Ausland studieren wolle, in Rumänien, bei ihr in der Stadt, sich die Universität anschauen, also kurzfristig ein paar Tage unterkommen müsse, aber wenig Kohle habe, mit dem Bafög gerade so über die Runden komme und von Beule wisse, dass sie in der Stadt wohne, ihm bestimmt einen Tipp geben könne, vielleicht sogar bei sich selbst Platz habe, die Unkosten werde er natürlich erstatten. Fil hingegen erwähnte er nicht, diese Frau, überlegte Daniel, ist der Schlüssel zum Leben des Vaters, sie stand zwischen uns, es ist besser, wenn sie nicht weiß, wer ich bin, besser, wenn ich sie erst einmal unauffällig ausfragen kann, unterschrieb also mit Elias, dem Zweitnamen, einem Alias. Zu seiner Überraschung antwortete sie schon am nächsten Tag, mailte, dass sie ein Zimmer habe, eine kleine Kammer, in der er ein paar Tage bleiben könne, er sich keinen Kopf machen müsse, sie wisse, wie das sei, wenn man sich selbst durchschlagen müsse, nicht aus einer Reihenhausfamilie stamme, eine Formulierung, über die er stutzte, weil sie ihm bekannt vorkam, er solle einfach kommen, und so begann er, seine Reisevorbereitungen zu treffen, ging bei Steffen vorbei, händigte ihm den Zweitschlüssel von Fils Wohnung aus, erklärte ihm den Grund seiner Reise, der ihm selbst noch nicht ganz klar war, der erst beim Reden allmählich klarere Konturen annahm: dass der Vater diese Frau geliebt, genau in jenen Jahren viel Zeit mit ihr verbracht habe, als er für Daniel keine Zeit hatte, dass sie, anders als Beule, dieser seltsame Freund des Vaters, der Freund mit dem seltsamen Namen, sicher nicht nur Anekdoten zum Besten zu geben habe, nicht nur von Straßenschlachten und wildem Sex reden,sondern auch etwas über die Gefühle des Vaters, seine Motive, seine Haltung gegenüber Menschen berichten können werde. Wenn jemand Fil kennt , sagte er, dann sie , die guten wie die schlechten Seiten. Aber Steffen begriff nicht, verstand nicht, warum Daniel überhaupt in dieser Vergangenheit herumwühlen wollte, der Geschichte des Vaters, warum er bei einer Unbekannten, von der er gerade einmal wusste, dass sie mit dem Vater zusammen gewesen war, so viel mehr erfahren zu können glaubte als bei Fils Freunden in Berlin, konnte nicht nachvollziehen, warum Daniel nicht lieber erst Bekannte des Vaters in der Stadt ausfindig zu machen versuchte. Daniel ging nicht auf die Einwände ein, sprach nicht über die anderen, heimlichen Motive der Reise, dieser Flucht , erwähnte nicht, dass er sich irgendwie im melancholischen Gesichtsausdruck, den die Frau auf den Fotos hatte, wiederzuerkennen glaubte, einem Gesichtsausdruck, der von Verlassenheit sprach, Verlassenheit von Fil, erwähnte nicht, dass die Fahrt eine Möglichkeit darstellte, der eigenen Situation zu entkommen: der Starre zwischen Studium und Intensivstation, Facebook und einer belanglosen Affäre. In Berlin bliebe Daniel nichts, als zu warten – zu warten, dass der Vater operiert würde oder stürbe; in Berlin wäre er an Fil gekettet, würde sein Leben völlig von dem des Vaters abhängen, eines Vaters, der immer peinlichst darum bemüht gewesen war, seine Unabhängigkeit zu wahren, seine Autonomie. Die
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