Der Eindringling: Roman (edition suhrkamp) (German Edition)
Reise hingegen gab Daniel die Initiative zurück, vermittelte ihm das Gefühl, den Rhythmus bestimmen zu können, würde ihm erlauben, sich den demütigenden Krankenbesuchen zu entziehen. Doch von diesen heimlichen Motiven sprach er gegenüber Steffen nicht, erklärte stattdessen, warum er Michaela nicht einfach die Wahrheit geschrieben,ihr verschwiegen hatte, dass er Fils Sohn sei. Er müsse sich heranarbeiten , erklärte er, die Frau habe nicht nur mit dem Vater gebrochen, auch ihr Verhältnis zu Daniel sei vorbelastet, immerhin seien sie Konkurrenten gewesen, damals, in den neunziger Jahren, ganz objektiv Konkurrenten um die Aufmerksamkeit des Vaters, außerdem stelle sich die Frage, warum auch sie kein Interesse gegenüber Daniel gezeigt, warum auch sie sich so idiotisch verhalten habe, auch für sie gebe es gute Gründe, sich einer Begegnung mit Daniel zu entziehen. Steffen verstand ihn nicht, konnte Daniels Argumente nicht nachvollziehen, die ungewohnte Aufgeregtheit des Freundes, aber fand sich schließlich mit den nervösen Erklärungen ab, nahm den Schlüssel entgegen, gab Daniel für die Zugfahrt ein neues Computerspiel mit.
Am Tag vor der Abreise machte sich Daniel noch ein letztes Mal auf den Weg ins Krankenhaus, setzte sich diesmal aber nicht zu Fil, sondern informierte nur die Stationsschwestern über seine Reise, erklärte, dass er über Handy jederzeit erreichbar sei und notfalls sofort zurückkommen werde. Auf dem Heimweg besorgte er sich Geld, hob mehrere Hundert Euro von Fils Konto ab, die Geheimnummer war im Ordner abgeheftet gewesen, ganz ordentlich, und verschwendete keinen Gedanken daran, dass Fil das nicht recht sein könnte. Wenn der Vater bereit war, die Wohnung zu bezahlen, dann würde er auch etwas zum Urlaub dazugeben, zu einer Bildungsreise im eigentlichen Sinne des Wortes, einer Reise, die Daniel helfen sollte, etwas über sich und Fil zu erfahren.
Ungarn erweist sich, allen Vorurteilen entsprechend, als flach wie ein Brett, und auch hinter der Grenze, der viertenGrenze, dauert es eine Weile, bis die Landschaft hügeliger wird, sich Bergketten erheben, Wälder die Landschaft grün einfärben. Die Ortschaften sehen vergessen aus, denkt Daniel, sehen immer vergessener aus, zwar gibt es Neubauten, Kräne, Straßenfahrzeuge, die von einem Boom zeugen, einem von der allgegenwärtigen Krise jäh unterbrochenen Boom, doch ansonsten sind die Dörfer von Braun- und Grautönen beherrscht, sehen die Bahnhöfe aus, als habe man hier in den vergangenen Jahrzehnten vor allem gewartet. Gewartet worauf?
Genau so, denkt Daniel, als der Zug neben ein paar Bauernhäusern, schief stehenden Zäunen, einer Sandpiste, ein paar Kühen, Gänsen, Hühnern zum Stehen kommt, sah die Landschaft auf Fils Fotos aus, den Fotos, auf denen er mit der Frau vor einem Mercedes zu sehen ist, ein Wald, der nicht von Straßen, Stromleitungen, Schneisen durchschnitten wird, Hitzeflimmern, der Staubfilm am Horizont, und für einen Augenblick ist Daniel unsicher, ob nun Gelassenheit oder Panik von ihm Besitz ergreifen soll, weil nichts darauf hindeutet, dass sich der Zug, der zum Stehen gekommene Zug jemals wieder in Bewegung setzen könnte.
Weil die Bewegungslosigkeit Daniel nervös zu machen beginnt, schraubt er schließlich die Cola-Flasche auf, die Kohlensäure entweicht mit einem Seufzen, und schiebt die DVD in den Laptop, die am Abend vor der Abfahrt in seinem Briefkasten lag, Fils Briefkasten, denn nicht nur Steffen, auch Beule hat, ohne von der Reise zu wissen, Daniel vor der Abfahrt mit einem kleinen Geschenk bedacht. Sie haben zwar nicht fotografiert, der Vater und seine Freunde, aber sie haben gefilmt, einmal zumindest einen kleinen Film gedreht.
Der Vater erscheint gleich in der ersten Einstellung.
Er sieht jung aus, schlank, die Haare kurz, ein wenig zerzaust, er blickt in die Kamera, mimt den gut aussehenden Dandy. Neben ihm drei andere Männer, ihre Rollen sind klar verteilt: ein Computerfreak, ein geschwätziger Agitator, ein stiller Nihilist, sie sitzen am Frühstückstisch in einer WG , vielleicht sogar in der Küche jener Wohnung, in der Daniel auch ein paar Mal zu Besuch war, trinken Kaffee, Filterkaffee , und blicken auf den Fernseher, der im Hintergrund läuft. Ein Nachrichtensprecher erklärt, Kreuzberg sei an die Sowjetunion abgetreten worden, die amerikanische Schutzmacht sei den Ärger, die ständigen Anfeindungen, die jeden Präsidentenbesuch überschattenden Krawalle leid und die Sowjets
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