Der Eindringling: Roman (edition suhrkamp) (German Edition)
der er geschlafen hat, Sarah, die nur ein paar Straßen entfernt wohnt, kramt in seiner Hosentasche nach dem Adresszettel, den sie ihm vor ein paar Tagen in der Küche zurückgelassen hat, faltet ihn auf und biegt dann, ohne weiter zu überlegen, ohne sich zu fragen, ob er erwünscht ist oder nicht, in die Seitenstraße ab. Ich könnte sie sehen, denkt er, könnte sie kurz besuchen, vielleicht mit ihr schlafen, warum nicht? Es ist seltsam: Seit ein paar Wochen, seit Fils Krankheit, seit Beginn dieses ungeklärten Zustands zwischen Leben und Tod, hat er das Gefühl, andersleben zu können, anders leben zu müssen. Er denkt: Vielleicht hatte der Vater damit ja recht – kompromissloser leben.
Sarah öffnet die Tür vorsichtig, als habe sie Angst, überfallen zu werden, als sei sie von Grund auf misstrauisch, eine alleinstehende ältere Frau, mustert ihn, zieht die Mundwinkel hoch – irritiert, ungläubig, vielleicht auch spöttisch –, lässt ihn dann aber doch herein.
Entschuldige, sagt er, ich hatte total Durst.
Er hatte was?
Er sei in der Staatsbibliothek gewesen, erklärt er, habe plötzlich das Gefühl gehabt, zu Fuß nach Hause laufen zu müssen, und sei auf dem Weg fast verdurstet.
Sie nimmt ihn nicht in den Arm, gibt ihm keinen Kuss, aber lässt die Tür hinter sich offen stehen. In der Wohnung, die sie sich mit einer Mitbewohnerin teilt, zu teilen scheint – zwei Zimmer, zwei verschiedene Schuhregale –, hängen auffallend viele Architekturplakate. Learning from Lagos , steht auf einem der Bilder, ein großer, überfüllter afrikanischer Markt.
Lagos, denkt Daniel, er war einmal mit dem Vater dort, hat den Vater dort einmal getroffen, aber das war ein anderes Lagos.
Was sie gerade mache.
Sie lerne, antwortet sie, am Montag habe sie Prüfung.
Sie lügt, denkt er, der Fernseher läuft, auf ihrem Laptop ist eine Facebook-Seite geöffnet, wir sind noch nicht einmal Freunde, überlegt er, virtuelle Freunde im sozialen Netz, wir haben miteinander geschlafen, aber sind noch immer keine Facebook-Freunde. Geht das überhaupt?
Sie holt eine Flasche Mineralwasser aus dem Kühlschrank und stellt sie auf den Tisch, Daniel schenkt sich das Glas voll und trinkt es in einem Zug leer. Das Wasser ist kalt, die Kohlensäure beißt, seine Augen tränen.
Eine Mitbewohnerin, Architekturplakate, Learning from Lagos – wie seltsam: Daniel weiß nichts von der Frau, fast nichts, und doch haben sie schon miteinander geschlafen.
Mein Vater liegt im Koma, setzt er unvermittelt an, der Vater, mit dem er nie zusammengewohnt habe, den er kaum kenne. Er habe nie geglaubt, der Vater sei für ihn besonders wichtig, er habe ja so etwas wie einen Vater gehabt, den Freund seiner Mutter, seit er acht war, habe die Mutter diesen Freund gehabt, und Fil, sein richtiger Vater, habe sich nie besonders für ihn interessiert.
Also warum sollte ich über ihn nachdenken?
Warum erzählt er ihr das? fragt er sich, und auch sie macht ein Gesicht, als stelle sie sich genau diese Frage. Warum erzählt er es ihr und nicht Steffen, den er seit der fünften Klasse kennt, der mit ihm zusammenwohnt, zu dem er Vertrauen hat? Wir sind noch keine Facebook-Freunde, denkt Daniel, vielleicht erzähle ich es ihr, weil wir noch keine Facebook-Freunde sind.
Es ist normal, dass du über ihn nachdenkst, antwortet sie, er ist dein leiblicher Vater.
Ja, aber es sei nicht nur deswegen, sagt Daniel, es klingt leicht verwirrt, er habe auf einmal auch das Gefühl, der Vater sei ganz anders, als er dachte, als seine Mutter immer behauptete, das heißt …
Er zögert, blickt sie irritiert an, fragt: Glaubt sie nicht, ihr Leben sei belanglos?
Sie versteht nicht.
Es hat keinen Sinn, bekräftigt er. Was wir machen, hat keinen Sinn.
Sie steht auf, holt Brot und Käse aus dem Kühlschrank, schmiert sich eine Stulle – ohne Daniel etwas anzubieten. Der Verdauungsgeruch von überreifem Époisses breitet sich aus, entfaltet in der stehenden Raumluft eine erschlagende Wirkung. Auf dem Plakat an der Wand ein überfüllter afrikanischer Markt, Learning from Lagos , aber was soll man davon lernen?
Als sie ins Brot beißt, der Weichkäse in ihren Zahnritzen haften bleibt, weiß Daniel, dass er nicht mit ihr schlafen, sie nicht küssen wird. Sie macht ein Gesicht, als hoffe sie, dass er bald geht, denkt er, sie will zurück an den Fernseher, ihre Serie schauen, an der Facebook-Seite basteln, Websites mit Herrenunterwäschewerbung aufrufen, sich vielleicht sogar
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