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Der Eindringling: Roman (edition suhrkamp) (German Edition)

Der Eindringling: Roman (edition suhrkamp) (German Edition)

Titel: Der Eindringling: Roman (edition suhrkamp) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Raul Zelik
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hätten sich bereit erklärt, das Viertel, den Problembezirk, die Schmuddelecke zu übernehmen, und als erste Maßnahme werde man nun, so der Sprecher, werde die sowjetische Verwaltung die werktätige Bevölkerung des neuen Bezirks statistisch erfassen, werde die sozialistische Regierung eine Volkszählung durchführen, um die Bedürfnisse der Massen im Rahmen der Planwirtschaft optimal befriedigen zu können.
    Was für ein seltsames Setting, denkt Daniel, was für eine einfältige Geschichte. Der größte unter den vier WG -Bewohnern, der Agitator, versucht seinen Mitbewohnern die neue proletarische Zukunft schmackhaft zu machen, will sie davon überzeugen, dass man im Westen zwar gegen den Kontrollstaat gewesen sei, zum Boykott von Volkszählungen aufgerufen habe, aber dass sich die Lage unter der Führung der Arbeiterklasse natürlich anders darstelle, immerhin gehe es jetzt um das Wohl der Werktätigen, um die wissenschaftliche Bestimmung der gesellschaftlichen Bedürfnisse.Doch wie kaum anders zu erwarten, zeigen sich die anderen von der Argumentation ihres Mitbewohners nicht besonders überzeugt, bleiben renitent, der Computerfreak, ein Pionier der IT -Branche, ein schon 1987 mit Atari-Rechnern herumbastelnder Hornbrillen-Typ, stellt Überlegungen darüber an, welche Software die Sowjets bei ihrer Volkszählung wohl verwenden werden, während der Nihilist vor sich hinkichernd einen ersten Anschlag, eine erste Sabotageaktion vorbereitet – als sei er einem Comic, einem dieser Heftchen entsprungen, die früher bei Fil immer auf dem WG -Klo herumlagen. Die Geschichte entwickelt sich berechenbar, denkt Daniel, der kleine Film ist zwar mit Hingabe gespielt, doch letztlich ziemlich simpel: Der Agitator verliebt sich in eine Politkommissarin, die ihm den Wodka nahebringt, und verliert seine Mission aus den Augen, der Atari-Bastler zieht jenseits der analogen Welt seine einsamen Bahnen, und der Nihilist stolpert wie seine Comic-Vorbilder von Aktion zu Aktion. Daniel erschließt sich das alles nur mäßig, hat den Humor der beim Vater auf dem Klo liegenden Bilderheftchen schon als Kind nicht verstanden und blickt doch weiter gebannt auf den Laptop. Denn neben den drei eher durchsichtigen Gestalten gibt es noch Fil, der keine richtige Rolle spielt, fast unbeteiligt am WG -Tisch sitzt, Delikatessen von einem Designerteller nascht, Perry-Rhodan-Heftchen liest und gelegentlich – weltabgewandt, mitten im Leben – philosophisch klingende Zitate von sich gibt: erst Kamel, dann Löwe, schließlich Kind. Fil, denkt Daniel, spielt sich selbst, spielt jemanden, der dazugehört und doch nicht dazugehört, der gegen den Besuch des US -Präsidenten, die anstehende Volkszählung, die Räumung von Häusern demonstriert, und nicht nur demonstriert, sondern auchContainer auf die Straße schiebt, Barrikaden anzündet, sich mit der Polizei und mit Nazis prügelt, aber trotzdem für das Gerede der anderen, für die emphatischen Hymnen auf Anarchie, Kommunismus, Freiheit nur Spott übrig hat, der Perry-Rhodan-Heftchen liest, um einen tiefsinnig klingenden Satz daraus zu zitieren, sich wie ein Punk geriert, aber ein Frühstück ohne frische Croissants nicht erträgt. Fil spielt sich selbst, das heißt einen Typen, der seiner Zeit voraus ist, in sich selbst ruht und in der Ablehnung, der Revolte , wie er im Filmchen sagt, doch ganz bei sich ist.
    Ich idealisiere ihn, denkt Daniel; ich darf ihn nicht so idealisieren, er inszeniert sich nur, hat immer nur seine Rolle gespielt, es ist nicht weiter schwer, Gelassenheit auszustrahlen, wenn man keine Verantwortung übernimmt, nur um sich selbst kreist.
    Aber immerhin, denkt Daniel, war er kein Spießer, hat sich Fil auch von der Borniertheit der Hausbesetzer und Weltverbesserer abgegrenzt, seine Sache durchgezogen, bei allem Stil gewahrt, Style. Ist das nicht, zumindest im Rückblick, zumindest von heute aus betrachtet, das Wichtigste? Stil zu wahren?
 
    Als der Zug in die Außenbezirke einrollt, fünfstöckige Plattenbauten aus den achtziger Jahren, neue Einfamilienhäuser, auffallend viele Gemüsegärten, steht Daniel bereits auf dem Gang, klopft gegen die Scheibe, erkundigt sich immer wieder bei Mitreisenden, ob es sich bei der nächsten Station wirklich um Sibiu-Hauptbahnhof handele. Eine Unruhe, als werde er gleich den Vater treffen, mit dieser Ankunft endlich den gordischen Knoten durchschlagen.
    Michaela hat in ihrer Mail geschrieben, dass Daniel sie anrufen soll, wenn er ankommt,

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