Der Eindringling: Roman (edition suhrkamp) (German Edition)
über die Ortschaften hinwegzuziehen.
Diesmal jedoch habe es vor allem den Osten getroffen.
Den Osten?
Das Tiefland am Schwarzen Meer, sagt sie, und bringt den Wagen an einer Ampel zum Stehen.
Sie fragt, was er studiert, und er überlegt kurz, ob nicht jetzt der Moment gekommen ist, um die Wahrheit zu sagen, von der schwierigen Beziehung zum Vater erzählen, seiner Krankheit, dem Druck, etwas erfahren zu müssen, ihr zu sagen, dass er mit der Wahrheit warten wollte, bis er angekommen war, damit sie sehe, wie ernst er die Sache nehme. Dochschließlich antwortet er nur leise: Deutsch und Französisch, auf Lehramt.
Und sie? Was macht sie?
Sie scheint einen Moment überlegen zu müssen und beginnt dann umständlich zu erklären, redet von Wanderarbeitern, die zum Erdbeerpflücken nach Spanien, Italien gingen, früher gegangen seien, bevor die Krise Europa erfasste, von Bauarbeitern, Altenpflegerinnen, Putzfrauen, während Daniel zu rätseln beginnt, was das mit seiner Frage zu tun hat, doch schließlich, nachdem sie die Probleme dieser Bevölkerungsgruppe ausführlich geschildert hat, ausführlich, als wolle sie Daniel von etwas überzeugen, ihn für ihre Arbeit agitieren, erklärt sie, dass sie mit Genossen , seltsames Wort, denkt Daniel, wer verwendet heute noch solche Begriffe?, nicht einmal Fil verwendete mehr solche Begriffe, eine Beratungsstelle für Wanderarbeiter aufgebaut habe, ein kleines Projekt.
Er nickt, blickt aus dem Beifahrerfenster, fragt sich, ob sich bei ihr gar nichts geändert hat, sie vielleicht deshalb mit Fil brach, weil der Vater seine Lebenseinstellung änderte – der Buchhalter-Job, die IKEA -Einrichtung –, denkt: Sie ist hängengeblieben, scheint einfach nicht zu verstehen, dass sich die Zeiten ändern.
Und davon könne sie leben?
Sie schüttelt den Kopf, grinst kurz, schüttelt wieder den Kopf: Nein, sie müsse ihr Geld anders verdienen – mit Übersetzungen, der Vermietung von Zimmern, der Betreuung von Reisegruppen, was sich so ergibt.
Eine alte Trambahn biegt vor ihnen ab, die Gleise kreischen, im Hintergrund Donnergrollen, Regen kündigt sich an.
Sie ist hängengeblieben, aber schrullig wirkt sie nicht dabei,hat nicht die gleiche Frisur wie vor zwanzig oder fünfundzwanzig Jahren, trägt nicht immer noch dieselben T-Shirts, ein Nietenarmband, obwohl ein Nietenarmband vielleicht schon wieder auf der Höhe der Zeit wäre.
Und Beule? Woher kennt er Beule? fragt sie.
Daniel wird nervös, er hat Beule gesagt, dass er Michaela schreiben wolle, hat ihn gebeten, Ela nicht zu erzählen, dass er Fils Sohn ist, falls sie nachfragen sollte, hat ihm erklärt, dass er es selbst sagen wolle, aber der Freund des Vaters könnte trotzdem etwas erzählt haben, das sich mit Daniels Version nicht deckt. Und so beginnt Daniel eine Geschichte zu improvisieren; dass er Beule kenne, weil sein Mitbewohner, Steffen, Kaffee verkaufe, die Maschinen bei Beule in der Firma warte, Programmierer saufen Espresso wie aus Kübeln , sie sich darüber einmal begegnet und auf Daniels Studienpläne zu sprechen gekommen seien. Michaela nickt, ohne das Gesicht zu verziehen, ohne misstrauisch zu wirken, sie scheint sich nicht weiter bei Beule nach ihm erkundigt zu haben, vielleicht decken sich auch die Geschichten, auf jeden Fall scheint sie mit der Antwort zufrieden.
Sie biegen auf eine Ausfallstraße ab, zügig fließt der Verkehr Richtung Vororte ab, hinter den Plattenbauten liegen Höfe aus Zeiten der k. u. k.-Monarchie, Erdpisten münden in die Hauptverkehrsstraße ein. Ein riesiger Carrefour, unzählige Tankstellen, die neu errichtete Flughafenhalle: Die Stadt vermittelt ein unzusammenhängendes Bild, als habe man Einzelteile hektisch ineinandergeschoben.
Endlich fällt der Regen, der sich den ganzen Nachmittag über angekündigt hat.
Die Tropfen zerplatzen auf der Windschutzscheibe wie matschiges Obst, der Wagen lässt die Stadtgrenze hinter sich,die Scheibenwischer ziehen Schlieren übers Glas, und Daniel stellt sich zum ersten Mal die Frage, wie er etwas über Fil erfahren will, wenn er Geschichten erzählt, die mit Fil nichts zu tun haben, vom Vater immer weiter fort führen.
Weil sich peinliche Stille ausbreitet, die Unterhaltung abgerissen ist, greift Michaela ins Handschuhfach und zieht eine CD aus der Ablage, HipHop, die Musik scheint nicht ganz zu der vierzigjährigen Frau zu passen, der zuvorkommenden, freundlichen, irgendwie zu seriösen Person. Daniel wirft einen Blick auf die CD -Box,
Weitere Kostenlose Bücher