Der Eindringling: Roman (edition suhrkamp) (German Edition)
liest, die Worte sind in einer Mädchenschrift geschrieben, die mit der Schrift auf dem kleinen, bei Fil gefundenen gelben Zettel identisch sein könnte: Mobb Deep.
Das Haus, ein verwinkelter Bauernhof mit einer knarrenden Holztreppe, was den Feriengästen gefallen dürfte, den fortschrittsmüden Touristen aus Deutschland, steht am Dorfrand, nicht weit von einem Waldstück entfernt. Michaela, die sich nicht nur ein jugendliches Gesicht, sondern auch einen sehnigen Körper bewahrt hat, beim Gehen auffallend federt, zeigt ihm die Kammer: ein Schemel, ein einfaches Bett, Boden und Wände aus Holz. Daniel stellt seine Reisetasche auf den Stuhl, kramt ein Handtuch und Wechselwäsche heraus, blickt nach draußen. Durch die Scheibe, das einfach verglaste Fenster, sieht man die abziehende Gewitterfront, sieht man Regenwolken das Licht der Abenddämmerung verschlingen. Ela führt Daniel ins Bad, das sich ähnlich wie zuvor die Straße, der Bahnhof, die ganze Stadt, in einem eigenartigen Zwischenzustand befindet: Terrakottafliesen, ein neues Designer-Waschbecken, der poröse, rotbraun verfärbte Duschschlauch.
Wenn er Lust habe, könnten sie in einer halben Stunde zusammen essen, sagt sie, bevor sie ihn allein lässt, und er streift die verschwitzten Kleider ab, um unter die Dusche zu steigen. Das Wasser fällt kraftlos aus dem rostigen Duschkopf, der Wasserdruck reicht kaum aus, um die Seife vom Körper zu lösen, nur langsam versickert der Schaum im Abfluss, kreist träge darum herum, im Uhrzeigersinn, wie es der Physiklehrer in der Schule einst prophezeit hat. Erschöpft schaut Daniel in den Strudel. Die Glieder fühlen sich schwer an nach der langen Fahrt – schwer, beinahe taub.
Unten in der Wohnküche, einem niedrigen, dunklen, nicht unfreundlichen Raum, sitzt ein Mädchen am Küchentisch, vielleicht 19, ihre Nase ist schief, als sei sie einmal gebrochen gewesen. Michaela kniet währenddessen am Herd und legt Holz nach, schiebt Scheite in die Flammen, wie vor hundert Jahren, denkt Daniel, kocht wie vor hundert Jahren mit Holz. In einem Topf zischt Fleisch, vielleicht Gulasch.
Daniel setzt sich gegenüber der Besucherin an den Tisch und versucht, der Unterhaltung zu folgen, doch er muss feststellen, dass er trotz seiner Französischkenntnisse nichts versteht, die rumänischen Worte ihre Bedeutung nicht preisgeben, trotz des gemeinsamen Ursprungs der Sprachen nicht die geringste Ähnlichkeit mit dem Französischen erkennen lassen. Der Fluss der Worte macht Daniel müde, noch müder, er stützt die Ellenbogen auf, legt den Kopf auf die Hände, beobachtet, wie die Besucherin sich in Rage redet. Von Ela nur selten unterbrochen schimpft sie vor sich hin, verstummt dann abrupt und geht schnell, fast grußlos, zur Tür hinaus.
Draußen ist es immer noch hell, ein Streifen Dämmerungliegt über dem Hausdach, das Mädchen überquert die Straße, stapft mit ihren Schuhen durch den Sand.
Sie hat Ärger mit ihrer Familie, erklärt Ela. Ihr Bruder schlägt sie.
Bauern? fragt Daniel.
Roma, antwortet Ela, Roma haben kein Land.
Als das Fleisch gar ist, nimmt sie den Topf vom Herd, stellt ein paar Teller auf den Tisch und setzt sich zu Daniel – auf den Platz, auf dem zuvor das Mädchen saß. Dass die Ex-Freundin des Vaters anders ist als Beule, denkt er, herzlicher, energischer, aber irgendwie auch schwerer einschätzbar. Dann sprechen sie erneut über die Besucherin; dass sie öfter vorbeikomme, Ela sich ein wenig um sie kümmere, obwohl das Mädchen sie schon mehrmals beklaut hat.
Sie nimmt Drogen und säuft.
Du lässt sie ins Haus, obwohl sie dich beklaut?
Wenn sie nicht besoffen ist, ist sie in Ordnung. Außerdem hat sie mir beim Bauen geholfen; die Kammer oben haben wir zusammen gemacht.
Sie hat ein Helfersyndrom, denkt Daniel. Hatte Fil das nicht auch? Hat er sich nicht auch immer für alle zuständig gefühlt? Für alle außer Daniel. Hat sie das miteinander verbunden?
Familie ist die Hölle, stellt Ela fest, als spüre sie, worüber er nachdenkt.
Nicht-Familie ist auch die Hölle, erwidert er. Ich kenne meinen Vater kaum, ich habe keine Ahnung, wer er ist, ich habe ihn seit fünfzehn Jahren praktisch nicht gesehen.
Sie blickt ihn an, als begreife sie plötzlich, von welchem Vater er spricht: gereizt, abweisend, vielleicht auch mit einer Spur Mitleid. Doch dann sagt sie nur:
Manchmal ist es besser, wenn man nicht weiß, was der Vater gemacht hat.
Das Fleisch ist heiß und scharf. Ela stellt Fragen
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