Der Eindringling: Roman (edition suhrkamp) (German Edition)
weil sie ein Stück außerhalb wohnt, in einem Dorf, das mit öffentlichen Verkehrsmitteln nicht gut zu erreichen ist, und nun ist er froh über das Angebot, ist er froh, sich nach der langen Zugfahrt nicht durchfragen, nicht radebrechend in einer fremden Sprache verständigen zu müssen.
Er wählt also die rumänische Nummer, während der Zug, der umso heftiger schaukelt, je langsamer er rollt, in den Bahnhof einfährt, hört die Stimme der Frau am anderen Ende der Leitung, jedes ihrer Worte hallt nach, und er erklärt schüchtern, dass er gleich ankommen, aber sicher auch mit dem Bus oder Taxi zu ihr finden werde. Doch Michaela, die unbekannte Stimme, die Ex-Freundin Fils antwortet, dass sie nicht länger als fünfzehn Minuten brauche, er so lange im Café gegenüber vom Bahnhofsausgang warten könne, und Daniel ist erleichtert, bedankt sich erleichtert, wundert sich über die Großzügigkeit, die Hilfsbereitschaft dieser Frau.
Anders als sie vorgeschlagen hat, geht er aber nicht ins Café, sondern setzt sich auf die Bank vor dem Bahnhof, betrachtet die anliegenden Straßen, die Plattenbauten, das halbe Dutzend fabrikneuer Busse, die verchromte Fassade eines aufgegebenen Sportartikelgeschäfts, und denkt, dass sich die Stadt in einem eigenartigen Zwischenzustand befindet: in einem stillstehenden Umbruch. Aus der Bahnhofshalle strömen Pendler, tragen Arbeitsmappen oder zu schwere Plastiktüten nach Hause, Backpacker wanken unter der Last ihres Gepäcks unsicher Richtung Innenstadt. Was ist, wenn sie ihn erkennt, fragt Daniel sich, die Frau, die ihn als Kind schon einmal gesehen, zumindest auf Fotos gesehen haben muss. Dann wäre die ganze Reise umsonst gewesen, die Reise von Berlin hierher, 1500 Kilometer, die Fahrt weg von Fil, dem Erzeuger, der jetzt jederzeit sterben kann. Jederzeit – während Daniel in Rumänien ist und etwas sucht, von dem er nicht einmal genau weiß, was es ist.
Ich habe so etwas noch nie gemacht, denkt er, ich bin noch nie ins Ungewisse gefahren, es ist nicht meine Art zu lügen, mich als jemand anderes auszugeben, eine konspirative Rolle zu spielen. Warum mache ich das? Um Fils Leben zu verstehen, ihm näherzukommen, etwas zu tun, das auch er gemacht haben könnte? Ist es der Reiz des Verbotenen?
Der Wagen, der schließlich vor dem Café auf der gegenüberliegenden Straßenseite hält und aus dem eine Frau aussteigt, die den Fotos aus Fils Schreibtisch überraschend ähnlich sieht, so als sei die Zeit seit den Aufnahmen, als seien fünfzehn Jahre spurlos an ihr vorübergegangen, ist an der Seite ein wenig zerkratzt, ein blauer VW Passat. Die Ex-Freundin Fils, Ela, geht um die Motorhaube herum, blickt Richtung Bahnhofsausgang und entdeckt Daniel, der aufgesprungen ist und sich nervös, ein bisschen zögerlich in Bewegung gesetzt hat, erst, als der zu winken beginnt.
Auf seinen Handflächen sammelt sich Schweiß, er denkt, dass sie ihn mustert, vielleicht schon als Fils Sohn erkannt hat, ihn gleich anschreien könnte. Aber sie lacht nur, als sie sich gegenüberstehen, reicht ihm die Hand, hegt keinerlei Misstrauen, Daniel sagt einen Namen, mit dem niemand ihn anspricht, den Zweitnamen, Elias, und schiebt dann schnell hinterher: Danke, dass du mich abholst. Sie jedoch winkt nur ab, fragt nach der Zugfahrt.
Ich wollte mir das anschauen, setzt er umständlich an, ich hätte fliegen können, aber ich wollte wissen, wie das aussieht. Und dann: Die Fahrt war super, superinteressant. NachOsten hin wurde es immer … er zögert, sucht nach einem passenden Adjektiv, wiederholt schließlich: interessanter.
Auf der superinteressanten Fahrt wurde es immer interessanter, hallt es in seinem Kopf nach.
Sie lächelt dennoch, öffnet den Kofferraum, hilft ihm, die Reisetasche hineinzulegen. Als sie den Wagen startet, heult der Motor auf wie ein angefahrenes Tier.
Sie rollen an Häuserfassaden vorüber, die Daniel bekannt vorkommen, die er vielleicht schon einmal in einer Fernsehreportage gesehen hat; Bauten aus den Zeiten der Donaumonarchie.
Die Luft, die in den Wagen strömt, ist heiß, noch etwas drückender als in Berlin. An den Bergketten am Horizont türmen sich Wolkenberge auf, und die Frau erzählt, dass es einige Tage zuvor schwere Überschwemmungen gegeben habe, das Land teilweise unter Wasser stehe, in der Gegend oft Unwetter niedergingen, weil Ardeal, Transilvania, Siebenbürgen von einem Karpatenring umschlossen sei und Gewitter von den Bergen zurückprallten, um dann zweimal
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