Der Eindringling: Roman (edition suhrkamp) (German Edition)
Geschäft an der Ecke zu gehen, wo man ihn vielleicht kennt, wo man vielleicht weiß, wo er zu Hause ist. Und Daniel, der alles von der Kletterspinne herab beobachtet hat, ärgert sich, ihm ist das türkische Kind, dem der Vater so viel Aufmerksamkeit schenkt, nicht geheuer. Wir wollten doch ins Kino, hört Daniel sich in der Erinnerung sagen, wir wollten doch diesen Zeichentrickfilm sehen, aber der Vater erwidert nur, dass sie das hinterher machen können, sie den fremden, am Kopf blutenden Jungen jetzt nicht allein lassen dürfen, und Daniel sieht sich auf der Kletterspinne aufstampfen, spürt den Zorn auf das Paria-Kind, die Angreifer, den Vater. Er schreit, dass sie verabredet seien, ins Kino gehen wollten, aber der Vater antwortet nur, dass er den Jungen jetzt zu seinen Eltern bringen werde und Daniel entweder mitkommen oder zu Hause warten könne.
Tatsächlich ging Daniel nicht mit, blieb auf dem Klettergerüst stehen, auf dem Seil, der Metallkern schimmerte unter dem abgewetzten Kunststoff hervor, und erinnert sich jetzt, viele Jahre später, dass er an diesem Nachmittag lange wartete, in Fils ausnahmsweise einmal aufgeräumter WG -Küche darauf hoffte, endlich den Schlüssel im Schloss klicken zu hören, bis der Vater wirklich zurückkam. Fil erzählte, dass der fremde Junge erst nach einer Stunde geredet, sich besser gefühlt habe, du hast es doch gesehen, hört Daniel die Erklärung des Vaters, er war völlig durcheinander, ich konnte ihn nicht allein lassen, und Daniel erinnert sich oder glaubt sich zumindest zu erinnern, dass sich in seine Wut Scham mischte – Scham darüber, dass er dem Jungen nicht hatte helfen wollen.
Damals, denkt Daniel, der auf dem Platz in Sibiu steht und immer noch dem deutschen Pärchen hinterherblickt, fragte er sich, warum Fil immer für alle Menschen da sein wollte, nur eben nie für ihn, warum er zwischen Familie und der Außenwelt offensichtlich nicht unterschied. Dabei hatte der Vater an diesem Tag doch recht: Daniel hätte einfach mitgehen können. Warum ist er nicht mitgegangen?
Ein paar Stunden später, es ist etwas kühler als am Vortag, keine Gewitterwolken türmen sich am Horizont auf, trifft er sich mit Ela in der Stadt. Sie fragt, wie es ihm an der Uni ergangen sei, er lügt, alles sei problemlos verlaufen. Als sie in eine Seitenstraße einbiegen, kommen sie an einem Antiquariat vorbei, fällt Daniels Blick in das Schaufenster eines kleinen Geschäfts, in dem die Zeit stehengeblieben zu sein scheint, in dem ein paar von einem sonnenvergilbten Staubfilm überzogene Bücher ausliegen. Die gleichen Bände, denkt Daniel, wie bei Fil in der Wohnung, und machtin der Hoffnung, die Frau werde verstehen, eine Bemerkung:
Lyrik.
Doch Ela ist mit ihrem Handy beschäftigt, blickt auf das Display.
Hat ihre Mutter nicht solche Bücher gesammelt?
Sie erstarrt.
Wer hat ihm von ihrer Mutter erzählt?
Nun zuckt er zusammen: Was soll er antworten? Dass die Bücher ihrer Mutter bei Fil im Regal stehen?
Beule, wer sonst?
Sie mustert ihn, als habe sie ein Geheimnis, als sei sie seinem auf der Spur, und er versucht, ihrem Blick zu entkommen, starrt auf die Bücher, das in Stoff eingeschlagene Schaufensterbrett, den Textilbezug, der seine ursprüngliche Farbe längst eingebüßt hat, die sonnenvergilbte Staubschicht.
Doch dann hellt sich ihr Gesicht überraschend schnell wieder auf. Sie sei noch ein Kind gewesen, erzählt sie, aber daran erinnere sie sich: In Ceauşescus Rumänien hätten diese Bücher eine seltsame Rolle gespielt, denn da alles verboten gewesen sei, hätten sich viele in die Sprache geflüchtet. Der Staat habe das nicht nur bekämpft und verfolgt, sondern auch gefördert, anders als in der Tschechoslowakei oder in Polen habe man die deutsche Minderheit nicht einfach vertrieben, sondern gleichzeitig gehegt und bespitzelt, und so habe es bis zuletzt einen Verlag für deutschsprachige Literatur gegeben, deutsche Studiengänge, sogar eine deutsche Tageszeitung, Neuer Weg , erzählt sie nach einer kurzen Pause weiter. Literatur habe eine wichtige Rolle gespielt, vielleicht wie Theater in der DDR , obwohl auch anders, denn Theater in der DDR sei explizit politisch gewesen, im Theater der DDR wurde das diskutiert, was sonst im Land nicht diskutiert werden durfte, in Rumänien dagegen, in Ceauşescus Irrenhaus , sagt sie, durfte nirgends und nichts diskutiert werden, auch nicht in der Literatur, weswegen die Lyrik in gewisser Hinsicht sehr radikal gewesen sei,
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