Der Eindringling: Roman (edition suhrkamp) (German Edition)
sehr abstrakt, sehr auf die Sprache bedacht, obwohl die Leute, die sie schrieben, alles andere als radikal gewesen seien.
Die Begriffe funktionierten nicht, schiebt sie hinterher.
Und die Mutter?
Ela zögert, als habe er sie ertappt.
Sie hat Literatur studiert, sie wollte Übersetzerin werden.
Und was wurde sie schließlich?
Die Frau zieht die Augenbrauen hoch, lässt Luft aus dem Mund entweichen, kämpft mit sich.
Alkoholikerin, sagt sie, Antikommunistin.
Sie schweigen einen Moment – etwa so lang, wie ein Auto braucht, um einzuparken, ziemlich genau so lang, wie der fabrikneue Dacia neben ihnen braucht, um in die schmale Parklücke zu setzen.
Durch die Schaufensterscheibe der Buchhandlung beobachtet Daniel, wie der Antiquar, ein langsamer, längst ergrauter Mann, der nicht besonders interessiert an seinen Büchern zu sein scheint, der zumindest kein besonderes Interesse ausstrahlt, einem Käufer, einem Touristen, ein Buch aus dem Schaufenster holt und es umständlich einpackt. Kraftlos, lethargisch sieht er aus, als habe er nur deshalb nichts am Geschäft geändert, weil er die für den Umbau nötige Energie nicht aufbrachte, und dann mit der Zeit festgestellt, dass der Stillstand die Touristen anzog, dass die Trostlosigkeit die melancholische Seite in ihnen ansprach, ihre Sehnsucht weckte, die Zeit stillstehen zu lassen, denn verstreichende Zeithat immer etwas Deprimierendes, denkt Daniel, führt einem immer die Unfähigkeit vor Augen, die Dinge in Ordnung zu bringen, die Beziehung zu den Eltern zum Beispiel.
Bevor man stirbt, denkt er. Bevor Fil am Ende stirbt.
Es tue ihm leid, sagt er, dass er das Thema angeschnitten habe, das falsche Thema.
Sie winkt ab.
Er habe es nicht wissen können.
Ein paar Straßen entfernt liegt eine Kneipe, in der die Zeit ebenfalls stehengeblieben zu sein scheint: Schlagermusik, ein paar Männer an einem hässlichen Aluminiumtisch, ein Kalender mit Naturmotiven, der die falsche Jahreszahl anzeigt. Es riecht nach Scheuermittel, Zigarettenrauch, einer Geruchstanne.
Die Aluminiumhocker quietschen, als sie sich setzen, Ela bestellt Bier für sie beide.
Und deine Eltern, fragt sie, als habe sie ihn durchschaut, als wolle sie ihm die Möglichkeit geben, die Wahrheit zu sagen.
Er sei bei der Mutter groß geworden, erwidert Daniel, den Vater kenne er kaum, habe er lange nicht gesehen, er holt Luft, schiebt hinterher: Er ist ein Idiot, hat sich zumindest wie einer benommen, hatte immer tausend Dinge im Kopf, die wichtiger waren als ich.
Er verstummt, denkt: zum Beispiel dich.
Und was mache die Mutter?
Sie arbeite als Sekretärin, Daniel sagt: in Hamburg, damit Ela ihm nicht sofort auf die Schliche kommt; sie habe schon lange einen Freund, aber der sei erst später bei ihnen eingezogen, er habe nie ein Ersatzvater werden wollen.
Ich hätte das auch nicht gewollt.
Die Bedienung bringt das Bier, ohne Gläser, die Flaschen sind beschlagen. Obwohl Daniel nicht gern Bier trinkt, ihm die Situation bekannt vorkommt, hebt er die Flasche hoch, prostet er Ela zu, tickt seine Flasche gegen ihre.
Meine Mutter war immer für mich da, sagt er.
Und bei seinem Vater hat er nie gewohnt?
Sie weiß, wer ich bin, denkt er, sie muss doch jetzt wissen, wer ich bin, das heißt, er könnte von Fil erzählen, dem Koma, könnte erklären, warum er sie belogen hat, nicht gewagt hat, zu sagen, wer er ist, könnte sagen, warum es so wichtig für ihn ist, etwas über den Vater zu erfahren. Er könnte sagen: Ich muss wissen, warum Fil damals nicht da war, warum er mich nicht geliebt hat, nicht so viel geliebt hat wie zum Beispiel dich. Er war doch kein Idiot.
Doch genau diese Sätze wollen ihm nicht über die Lippen. Stattdessen sagt er:
Ich habe immer gedacht, mein Vater sei mir egal, aber das stimmt nicht. Er ist mir nicht egal. Ich verstehe ihn nicht. Seit ein paar Wochen wünsche ich mir, ihn zu verstehen.
Warum er den Vater dann nicht suche.
Weil er weg ist, sagt Daniel und denkt an die Intensivstation, weil ich nicht weiß, wie ich Kontakt zu ihm herstellen kann.
Es ist die Wahrheit, denkt er, zumindest das ist die Wahrheit.
Sie nickt, er zupft das Papieretikett von der beschlagenen Flasche, und wieder schießt ihm die Frage durch den Kopf, wie Fil und die Frau sich wohl kennengelernt haben könnten. Also fragt er nach Berlin, wie es für sie gewesen sei, in den Westen zu kommen.
Bunt, antwortet sie. Man könne sich das heute kaum noch vorstellen; dass einem Westberlin in den
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