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Der Eindringling: Roman (edition suhrkamp) (German Edition)

Der Eindringling: Roman (edition suhrkamp) (German Edition)

Titel: Der Eindringling: Roman (edition suhrkamp) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Raul Zelik
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über die Zugfahrt, den Aufenthalt in Budapest, über Berlin, wo sie lang nicht gewesen zu sein scheint. Fragen, auf die Daniel nur Klischees zu antworten weiß.
    Durch das offene Fenster dringt das Heulen der nahgelegenen Europastraße, schwappen Donnergrollen, Hundebellen, feuchte Sommerluft herein. Und Daniel rätselt, warum er diese Frau belügt, die ihn so großzügig aufgenommen hat, großzügig, obwohl sie ihn nicht kennt, den Kontakt zu den Freunden nach Berlin eigentlich abgebrochen hat.
    Er fragt, wie sie damals nach Berlin gekommen sei.
    Als Aussiedlerin, rausgekauft, '82.
    Daniel versteht nicht: Rausgekauft?
    Die rumänische Regierung, erzählt sie, habe sich die Aussiedler damals vom Westen bezahlen lassen, zwischen 2000 und 10 000 Mark, ein gutes Geschäft – für Ceauşescu, aber auch für die Deutschen, denn die meisten Übersiedler seien gut ausgebildet gewesen, integrationswillig und stramm antikommunistisch. Solche Einwanderer habe man gern genommen.
    Sie selbst allerdings sei die Ausnahme gewesen, sagt sie, nicht integrationswillig, nicht stramm antikommunistisch. Kein gutes Geschäft.
    Nachdenklich kaut sie auf einem zähen Stück Fleisch herum.
    Es heißt, es wäre eine aufregende Zeit gewesen, merkt Daniel an.
    Sage wer? erwidert sie.
    Sagten Leute wie Beule. Alles sei in Bewegung gewesen, man habe kompromisslos gelebt.
    Sie spuckt einen Knorpel auf den Teller und schiebt ihn mit der Gabel zur Seite. Dann lächelt sie plötzlich.
    Vieles sei auch ziemlich einfältig gewesen.
    Einfältig?
    Man habe vor allem Fantasy-Romane gelesen … Fantasy und Science-Fiction.
    Perry Rhodan, wirft Daniel ein und hofft, sie könnte die Anspielung verstehen. Dann könnten sie reden, könnte er vielleicht erklären, warum er gelogen hat.
    Aber sie versteht nicht.
    Alles habe sich ums Ende gedreht, fährt sie fort, Atomtod, Waldsterben, Dritter Weltkrieg. Heute sei zwar auch Apokalypse, aber keiner gehe mehr hin.
    Sie grinst, aber Daniel versteht die Anspielung nicht.
    Wo haben sie sich wohl das erste Mal geküsst, denkt er im Stillen, wie mag sie es gefunden haben, dass er – sieben Jahre älter als sie – ein Kind hatte, das er nie sah?
    Ob sie viel an früher denke, fragt er.
    Nicht viel, antwortet sie und schüttelt den Kopf.
 
    Als er am nächsten Morgen aufwacht, ist sie fort. Auf der Küchenablage liegt ein Blatt Papier: eine Skizze der Stadt und ihrer Zufahrtsstraßen, ein paar Sätze in einer schnörkeligen Schrift, die nicht recht zu ihr passen, zu dem Bild passen will, das er von ihr hat. Er zieht den gelben Zettel aus der Tasche, den er bei Fil im Schreibtisch gefunden hat, und vergleicht die Schrift. Du hast es verbockt, du hast alles verbockt. Die Buchstaben sehen etwas eckiger aus als auf der zurückgelassenen Nachricht. Er ist sich nicht sicher.
    Eine halbe Stunde später steht er im Bus. Rentner, die zum Einkaufen in die Stadt fahren, halten überdimensionierte Taschen in den Händen; eben, überraschend eben zieht die Landschaft hinter den nicht mehr alten, nicht mehr ganz neuen Busfensterscheiben vorüber, ein Film hinter einem an der Scheibe angetrockneten Dreckfilm. Früh abgeerntete oder brach liegende Felder, weiter südlich im Dunst ein Karpatenzug. Die Fahrgäste sprechen leise, fast tuschelnd, als fühlten sie sich überwacht.
    Als sie die Stadt erreichen, ist Daniel schlecht; von der Fahrt, dem starken Tee am Morgen, der früh drückenden Schwüle. Er kauft sich eine Cola, wie er es immer macht, wie er es jeden Morgen gemacht hat, als er noch in die Uni ging, das scheint unendlich lang her, und streift dann ziellos durch die Straßen. Die Stadt sieht anders aus als in dem Fotoband aus der Staatsbibliothek, kein sterbendes Siebenbürgen , eher wie von einer Sanierungswalze überrollt. Frisch verputzte Fassaden, Ladenzeilen mit Sportartikel-, Parfüm-, Schnellimbiss-Franchisen. In Anbetracht der Einkaufsmeilentrostlosigkeit erscheint die graue Tristesse der Vergangenheit schon fast wieder heimelig.
    Etwas abseits der Touristenströme, an einem Zeitungskiosk beobachtet Daniel zufällig eine Straßenszene: Eine junge deutsche Familie ist von einer Gruppe Kinder umringt. Die Frau schiebt einen Buggy mit einem Säugling vor sich her, der Vater, Anfang dreißig, redet mit den rumänischen Kindern, die Geld von ihm wollen. Als sich die Familie zum Gehen abwendet, der Mann den Kinderwagen etwas energischer vorwärtszuschieben beginnt, springt plötzlich ein dürres Mädchen, vielleicht

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