Der eine Kuss von dir
der anderen Seite genau weiß, dass einen zu Hause nichts Aufregendes erwartet. Also würde man gerne einfach immer weiterfahren.
CHRISTIAN: Also ich freue mich mördermäßig auf mein Bett! Und Rouladen von Mutti!
MATSE: (Lacht.) Irgenwann hat man auch die Schnauze voll davon, immer mit denselben Psychopathen rumzuhängen.
CHRISTIAN: Und – nehmt’s mir nicht übel, Jungs – aber immer die gleichen Songs zu hören, kann man auch nur begrenzt aushalten. Aber wir sind nur die von der Technik, also was wissen wir schon!
MATSE: Reicht das?
Ich zucke mit den Schultern.
MATSE: Na, ich finde es jedenfalls cool, dass du diese Doku machst. Ich glaube, wenn die Jungs sich die in zehn Jahren ansehen, wird denen das voll peinlich sein. Diese Cash Cover Combo, das war zum Beispiel echt ein Brüller!
CHRISTIAN: Ich fand, das war deren bester Auftritt!
MATSE: Aber nur, weil der Sound so blendend war.
CHRISTIAN: Das ist ja wohl klar. (Er zwinkert in die Kamera.) In Wahrheit sind wir nämlich die Stars!
MATSE: Okay, das reicht jetzt. Wir werden ja nicht fürs Reden bezahlt. Ist nicht so ganz unser Ding.
Franzi schaut noch mal bei uns vorbei, um sich zu verabschieden, sie fragt nach Linda und lädt die Jungs ein, jederzeit wiederzukommen. Dann fragt sie nach Milo, und als Robert erklärt, dass Milo erst später kommt, drückt sie ihm zwei Zettel für Milo in die Hand. Ich schiele unauffällig drauf und kann Telefonnummern erkennen und bei der einen ist sogar ein Herz dazugemalt. Das ärgert mich. Ich frage mich, ob Milo schon viele solcher Zettel bekommen hat und was er damit macht. Hebt er sie auf? Schmeichelt ihm das? Wahrscheinlich schon, das würde wohl jedem schmeicheln, und es ist ja auch kein Wunder, Milo ist auf der Bühne wirklich unglaublich. Wenn man will, kann man sich in nur wenigen Sekunden in ihn verlieben. Wahrscheinlich bin ich nur wütend, dass ich auch auf diese Rockstar-Masche reingefallen bin.
Ich setze mich auf den Bürgersteig vor dem Studentenhaus und beobachte die wenigen Leute, die hier um diese Zeit vorbeilaufen. Alte Omas, die ihr Hündchen an der Leine spazieren führen, zwei Typen, die sich über den Motor ihres Autos beugen und ratlos dreinblicken, ein Pärchen mit Kamera um den Hals, die aussehen, als hätten sie sich verirrt. An der nächsten Ecke sehe ich Milo in die Straße einbiegen. Ich überlege, ob ich reingehen soll, bevor er mich sieht, und so tun, als wäre mir alles total egal, aber wenn ich jetzt damit anfange, weiß ich nicht, wann das ein Ende nehmen wird, deshalb bleibe ich sitzen.
Mit angehaltenem Atem warte ich und bin gespannt, ob er sich zu mir setzen wird. Jetzt kann ich schon deutlich seine Schritte hören und richte mich auf, ich möchte nicht gekrümmt und bekümmert wirken. Ich brauche kein Mitleid von ihm. Ich will klare Ansagen.
»Sind die da drin so weit?«, fragt er, als er auf meiner Höhe ist. Kein Wort der Begrüßung.
»Keine Ahnung, ich glaube schon.« Ich räuspere mich und blicke auf.
»Ich schau mal nach«, sagt er, stößt die Tür zum Haus auf und verschwindet.
Na toll! Das ist nicht so gut gelaufen. Er ist sauer auf mich, ganz klar, vielleicht gibt er mir sogar die Schuld, was wiederum mich sauer macht.
In ein paar Minuten werden wir nach Lübbenau fahren, etwas mehr als eine Stunde Fahrt, dort spielen die Jungs heute in einer kleinen linken Kneipe ein Solikonzert. Unsere Gruppe ist kleiner geworden. Linda fehlt, und auch Dan, die beiden Stimmungsmacher sozusagen. Christian und Matse haben recht, es wird Zeit, nach Hause zu fahren. Ich bin auch völlig erschöpft, nicht nur vom wenigen Schlaf, auch emotional. Ich freue mich auf meine Eltern, die mir dann erzählen können, wie sie Partys feiern, und mir mit ihren Fragereien ab und an auf die Nerven fallen können. Das ist wenigstens konstant, darauf kann ich mich verlassen, und da weiß ich immer, woran ich bin.
Die Jungs kommen aus dem Haus, bringen die letzten Sachen mit und schließen die Autos auf.
»Fährst du bei uns mit oder im Tourbus?«, fragt Edgar und ich zögere mit meiner Antwort, weil ich hoffe, dass Milo mich auffordert, bei ihnen mitzufahren.
Aber er sieht mich ja nicht einmal an.
»Bei euch.« Ich raffe mich auf und klettere auf die Rückbank des Opels.
WIR LASSEN DIE graue Stadt hinter uns, fahren an Markendorf vorbei, an Müllrose und Beeskow. Diese ganzen Namen nerven mich plötzlich ungemein, sie sind so provinziell. Bei dem Gedanken, dass dort wirklich Menschen
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