Der eine Kuss von dir
Frustriert trinke ich das Restbier aus, grinse dem DJ zu, der hinter seinem Pult so einsam aussieht, wie ich mich fühle, und fange an, die Kabel von der Bühne aufzurollen. Erst als ich durch das offene Fenster Sirenen höre, werde ich schlagartig nüchtern, lasse die Kabel fallen und eile nach draußen.
Eine große Traube von Leuten hat sich auf der Straße versammelt. Das Blaulicht des Krankenwagens wirft merkwürdige Flecken auf ihre Gesichter. Ich entdecke Edgar und kämpfe mich zu ihm durch. »Was ist passiert?« Mein Herz rast.
»Linda ist vor ein Auto gelaufen.« Er wirkt mitgenommen.
»Wie vor ein Auto gelaufen? Was heißt das?« Ich stelle mich auf die Zehenspitzen, um etwas zu sehen. Linda wird auf einer Trage in den Krankenwagen geschoben. Milo spricht aufgeregt mit dem Sanitäter. Tom und Robert stehen etwas abseits und machen besorgte Gesichter. Mitten auf der Straße steht ein Auto, die Scheinwerfer sind noch an und der Fahrer vergräbt sein Gesicht in den Händen.
»Keine Ahnung!« Edgars Stimme klingt gereizt.
»Ist sie mit Absicht …?« In dem Moment versagt meine Stimme, und ich gehe in die Knie, weil mir plötzlich ganz schlecht wird.
»Keine Ahnung, es war ein Unfall. Ich habe es erst gesehen, als es schon passiert war.« Er beugt sich zu mir runter. »Komm hoch. Es geht jetzt nicht um dich.«
Obwohl ich es gemein finde, was er sagt, rappel ich mich wieder auf und sehe, wie Milo in den Krankenwagen einsteigt. Die Türen werden geschlossen, das Blaulicht ausgeschaltet und der Wagen fährt los. Immerhin nicht mit Sirene.
Die Menschentraube löst sich auf, einige kehren zurück in den Keller, andere treten den Nachhauseweg an. Die Stimmung ist bedrückt und die Party wird aufgelöst. Nur noch leise Musik wird gespielt und die Übriggebliebenen trinken ihre letzten Drinks aus. Tom, Robert und Matse bauen die Bühne ab. Edgar und Christian unterhalten sich leise, und als Dan und Mandy endlich wieder auftauchen, überlasse ich es den anderen, ihnen alles zu erzählen, und verziehe mich auf mein Zimmer. Ich werfe mich aufs Bett und fange hemmunglos an zu heulen, so wie schon lange nicht mehr.
IN DEN FRÜHEN Morgenstunden klopft Edgar an meine Tür und fragt, ob ich mit ins Krankenhaus fahren will. Ich zerre die letzten sauberen Klamotten aus meinem Rucksack und wasche mein Gesicht mit kaltem Wasser. Meine Augen bleiben rot und verquollen.
Wir fahren mit dem Opel zum Krankenhaus. Dan und Mandy sind geblieben, sie müssen den nächsten Zug nach Brandenburg nehmen, damit Dan das Versprechen halten kann, Mandy pünktlich wieder zu Hause abzuliefern. Es ist ihm viel daran gelegen, einen guten Eindruck zu machen. Von ihm hätte ich das am allerwenigsten erwartet.
Vor dem Krankenhaus stehen wir noch eine Weile unschlüssig rum, die Jungs haben die Hände in ihren Jeanstaschen vergraben und schauen zu Boden. Ich habe Angst reinzugehen, ich bin sicher, dass Linda mich überhaupt nicht sehen will. Wir gehen durch die Drehtür zum Empfang und werden in den dritten Stock geschickt. Wir quetschen uns mit anderen Besuchern in den Fahrstuhl, und mir ist es unangenehm, weil mein Magen ganz laut knurrt.
»Wir können uns gleich in der Cafeteria ein Frühstück holen«, flüstert Edgar mir ins Ohr.
Im Wartebereich sehe ich schon von Weitem Milo. Er sitzt auf einem der Plastikstühle und blättert in einer Zeitschrift.
Als er uns entdeckt, lächelt er müde. Ich versuche, seinen Blick einzufangen, aber er sieht nur ruhelos zwischen uns und dem grauen Linoleumboden hin und her. »Es geht ihr gut so weit. Es war ein Unfall. Sie hat nicht aufgepasst, als sie über die Straße wollte. Vielleicht hat sie es auch darauf angelegt, sie kann es selber nicht mehr genau sagen.« Jetzt erst sieht er mich an, aber es ist kein freundlicher Blick. »Ihre Eltern sind jetzt da.«
»Soll ich das Konzert heute absagen?«, fragt Tom und zieht sein iPhone aus der Hosentasche.
»Nein, wir fahren hin. Ihre Eltern werden sie am Nachmittag mit nach Hause nehmen. Wir können hier sowieso nichts machen. Ich habe die ganze Nacht bei ihr gesessen.« Er setzt sich wieder und wirkt erleichtert, dass seine Freunde da sind. Die Jungs setzen sich, doch ich muss dringend auf Klo.
Ich irre durch die kahlen Krankenhausgänge, bis ich die Besuchertoilette finde. Das Neonlicht macht mir Kopf schmerzen und der Blick in den Spiegel auch. Das ist mit Sicherheit der schlimmste Tag dieser Tour. Es gab schon einige unschöne, aber das dürfte nicht
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