Der eine Kuss von dir
leben, zieht sich bei mir alles zusammen. Meine Eltern wollen auch irgendwann aufs Dorf, glücklicherweise werden sie damit warten, bis ich ausgezogen bin und mein Studium beendet habe. Warum man freiwillig in so eine Einöde zieht, ist mir ein Rätsel.
»Hey, wollen wir Autofarbe spielen?«, fragt Edgar, und ich sehe ihn verständnislos an. »Na, du suchst dir eine Farbe aus, und ich eine Farbe, und dann zählen wir die Wagen mit der Farbe, die uns entgegenkommen. Wer die meisten hat, hat gewonnen.«
»Und was ist der Witz bei der Sache?«
»Der Gewinner kriegt vom Verlierer ein Eis spendiert.« Er grinst mich erwartungvoll an.
Ich zucke mit den Schultern. »Blödes Spiel.«
»Machst du nun mit?«
»Ja.«
»Gut, ich nehme Rot.«
»Silber.« Ich setze mich in den Schneidersitz und halte durch die Scheibe Ausschau. Edgar rückt zu mir heran, damit auch er eine bessere Sicht nach vorne hat. Während ich schummle und auch die grauen Autos als silbern mitzähle, beschließe ich, endlich die Trauerkloß-Nummer abzulegen, die ganzen blöden Sachen hinter mir zu lassen, den dummen Streit mit Milo. Ich möchte in Lübbenau wieder guter Dinge aus dem Auto steigen, mit einem Lächeln im Gesicht. Von mir aus mach ich den ersten Schritt auf Milo zu. Papa sagt, über seinen eigenen Schatten zu springen, ist eine der schwierigsten Aufgaben im Leben, aber ich bin plötzlich sicher, dass ich das hinkriegen kann.
Als ich ein sich näherndes rotes Auto entdecke, halte ich Edgar die Augen zu, um mir einen Vorteil zu sichern. Er protestiert und versucht, meine Hand von seinen Augen zu schieben, ich halte dagegen, wir fangen an, uns zu kabbeln und herumzualbern. Eigentlich ist er wie der Bruder, den ich nie hatte.
»So eine miese Schwindlerin!«, ruft Edgar, und Matse seufzt von vorne. Er hatte es wirklich nicht leicht mit uns als Beifahrern.
Lübbenau ist eine schöne Stadt, mit einem Hafen, einem Schloss und vielen Kirchen. Das ganze Grün sorgt dafür, dass ich mich gleich wie im Urlaub fühle. Als ich ein Touri-Boot an uns vorbeischippern sehe, überlege ich, dass es uns allen gut tun würde, wenn wir noch eine Kahnfahrt machen könnten vor dem Auftritt – das könnte die schlechte Stimmung vielleicht vertreiben.
Als ich aus dem Auto hüpfe, mache ich sofort den Vorschlag.
Die Jungs gucken mich zunächst komisch an, aber Robert schließt sich als Erster meiner Idee an, und die anderen zucken daraufhin mit den Schultern. »Warum nicht?«
»Wird euch guttun, raus aus den muffigen Kellern, an der frischen Luft ein bisschen Sonne tanken.« Oh Gott, ich höre mich an, wie meine eigene Mutter.
Wir buchen am Hafen eine Fahrt für 16 Uhr und fahren dann zunächst zu der kleinen Kneipe, um das Equipment abzuladen. Jenny, die den Laden leitet, ist eine kleine ältere Punker-Lady, die sich sehr von den anderen Leuten in Lübbenau unterscheidet.
»Das sind alles Touris hier, Ausflügler, die mal in die Natur wollen. Die Leute von hier kommen erst abends raus. Es gibt nicht viele von uns hier, wir sind ein kleiner Haufen, aber es kommen oft Leute aus Berlin oder Leipzig vorbei. Wir haben Stammpublikum«, erklärt sie und zeigt uns dann die Bühne, die wirklich winzig ist.
Die Jungs diskutieren darüber, wie man am besten die Instrumente aufbauen könnte, und ich hole mir am Tresen einen Kaffee. Durch das geöffnete Fenster hört man die Vögel zwitschern, die Sonne fällt durch den Spalt auf den Dielenboden und färbt ihn Orange. In der Ecke des Tresens liegen Zeitschriften, ich blättere in einer und lese die Überschriften. Einen Artikel über Janis Joplin lese ich mir zur Hälfte durch und erfahre, dass sie drei Tage vor ihrem Tod ein Testament unterzeichnet hat, in dem sie verfügte, dass von ihrem Bargeld alle ihre Freunde eine große Party feiern sollen. Ich frage mich, ob sie das wohl gemacht haben.
»Hey, willst du wenigstens ein bisschen fühlen, wie es ist Schlagzeug zu spielen?« Robert steht neben mir mit einer großen Holzkiste.
»Ja?«
»Ist das eine Frage?«
»Nein, keine Frage. Ich möchte das.« Ich lege die Zeitschrift weg und rutsche vom Barhocker.
Er klopft auf die Kiste. »Das ist ein Cajón. Da setzt du dich drauf und fängst an zu trommeln. Kannst auch mit dem Besen drüberstreichen.« Er reicht mir den Besen.
Ich drehe ihn etwas unschlüssig in meinen Händen.
»Na los!«, fordert er mich auf.
»Jetzt? Hier?« Ich schaue, ob jemand uns zusieht, aber alle sind beschäftigt und achten gar nicht auf
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