Der einsame Baum - Covenant 05
Eindruck täuschte. Die Masten waren lebendig von Segeltuch, Tauen und Riesen, und die Sternfahrers Schatz kreuzte die aufgewühlten Wasser mit der Zielstrebigkeit einer Ripptide.
Vier Tage lang beunruhigte eine Reihe kleinerer Gewitter die Region, gönnte der Mannschaft des Schiffs wenig Ruhe. Doch Linden nahm das Wechselspiel von Wind, Regen und Stille kaum zur Kenntnis. Unbewußt gewöhnte sie sich an die Umgebung, das Singen der Wanten, den Rhythmus des Bugs in der See, das Stampfen des Steins, das vielfältige Schwanken der Laternen und Hängematten. In undurchschaubaren Abständen ehrten die Riesen sie mit spontanen Feiern, würdigten das, was sie getan hatte; ihre Herzlichkeit füllte Lindens Augen mit Tränen. Ihre Aufmerksamkeit jedoch galt anderen Dingen. Das geringe Maß an Kraft, das sie aus kurzen Perioden unruhigen Schlafs und lustlos verzehrten Mahlzeiten bezog, verwendete sie darauf, über Thomas Covenant zu wachen. Sie wußte nun, er würde überleben. Obwohl sich noch nicht ersehen ließ, wann er wieder zu Bewußtsein kommen mochte, übte der Diamondraught in ihm seine Wirkung aus – drängte gleichzeitig Gift und Fieber zurück und stärkte ihn. Schon am ersten Tag war die Schwellung aus seiner rechten Körperseite und dem Arm gewichen, und nur ein dunkler, schwarz-gelb getupfter Bluterguß war geblieben, während man keine Anzeichen einer dauerhaften Schädigung erkennen konnte. Aber noch erwachte er nicht. Und Linden sah davon ab, sein Innenleben nochmals anzutasten, weder um sich näher über seine Verfassung zu informieren, noch um die Rückkehr seiner Besinnung zu fördern. Sie befürchtete, die Krankheit könne an seinem Verstand nagen, ihren Tribut von seiner geistigen Gesundheit eintreiben; doch sie scheute sich davor, die Wahrheit herauszufinden. Wenn sein Geist so gut gesundete wie sein Körper, hatte sie keinen Grund, seine innere Integrität zu verletzen, und hätte dafür keine Entschuldigung. Und wenn sein Geist sich zersetzte, dem Wahnsinn verfiel, dann würde sie mehr Kraft benötigen, als ihr jetzt zur Verfügung stand, um diese Prüfung durchzustehen.
Unverändert stak in ihm das Gift. Um Lindens willen hatte er sich bis dicht an den Rand der Selbstvernichtung gebracht. Und sie hatte ihn aus Rücksicht auf einen Verletzten in dieser Situation zusätzlich gefährdet. Andererseits aber hatte sie ihn von jenem Rand zurückgerissen. Irgendwie hatte er sie trotz seines Deliriums und drohenden Todes erkannt – und ihr vertraut. Das genügte. Wann immer der fortwährende Zustand seiner Besinnungslosigkeit und Hilflosigkeit ihr Duldungsvermögen überstieg, suchte sie den verletzten Riesen auf, um sich mit ihm zu befassen.
Sein Name lautete Nebelhorn, und seine Widerstandskraft gab ihr Anlaß zu einem unbestimmten Staunen. Lindens nervöse Erschöpfung, ihre innere Angespanntheit und Verkrampfung, das Brennen ihrer rot umränderten Augen in der salzigen Luft ließen den Riesen gesünder als sie wirken. Am zweiten Tag des stürmischen Wetters hatte seine Kondition sich so weit gefestigt, daß man versuchen konnte, seine gebrochenen Rippen einzurichten. Sie leitete Windsbraut und Seeträumer beim Strecken seines Oberkörpers an, bog Nebelhorns in Mitleidenschaft gezogene Knochen von den Lungen in ihre normale Stellung zurück, damit sie heilten, ohne ihn zu verkrüppeln. Er ertrug den Schmerz mit verzerrtem Grinsen und einer Flasche Diamondraught ; und als er zu guter Letzt einschlief, konnte Linden hören, wie er merklich leichter atmete.
Die Lagerverwalterin lobte den Erfolg der Maßnahme lediglich mit einem barschen Nicken, als hätte sie von der Auserwählten nichts anderes erwartet. Ankertau Seeträumer dagegen hob Linden von den Füßen und drückte sie fest an sich; seine Begeisterung lief beinahe auf Neid hinaus. Das Spannen seiner eichenharten Muskeln verriet Linden, wie sehnsüchtig der Bruder des Kapitäns nach Heilung lechzte – Heilung der Erde und des eigenen Leids. Die Narbe unter seinen Augen glänzte fahl und wie in Trübsal. Voller Verständnis und Mitgefühl erwiderte sie seine Umarmung. Dann verließ sie Salztraumruh, wo Nebelhorns Lager stand, und begab sich wieder zu Covenant.
Am dritten Tag des Schlechtwetters kam er spätabends allmählich zu sich. Er war zu schwach, um den Kopf zu heben oder zu sprechen. Er wirkte sogar zu schwach, um nur zu begreifen, wer er war, wer Linden war, was sich mit ihm ereignet hatte. Doch er war hinter der Stumpfheit seines
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