Der Einsatz
waren, würdigten ihn keines Blickes. Genauso gut hätte er ein streunender Köter sein können.
Er bog nach links in die Yazdani-Straße ein und ging vor bis zu dem Haus mit der Nummer 29. Dort wohnte Karim Molavi. Er teilte sich das Haus mit einem weiteren Mieter, der das obere Stockwerk bewohnte. Hakim hatte Anweisung, sich auf den Gehsteig zu hocken und zu warten. Falls ihn jemand fragte, was er hier verloren habe, würde er antworten:
«mashin, mashin»
– das persische Wort für «Auto» –, als wartete er auf seine Mitfahrgelegenheit, und dann auf Urdu weiterplappern. Doch er wusste, dass ihn ohnehin niemand ansprechen würde, wenn er nur harmlos und unterwürfig genug wirkte. Das Schöne an Vorurteilen war die Überheblichkeit, die dahinterstand: Man glaubte, alle Antworten bereits zu kennen.
Und so setzte Hakim sich auf den Rand des Gehsteigs und beugte sich so weit vor, dass seine Schultern fast die Knie berührten. Kurz vor dem Aufbruch aus London hatte er ein grobkörniges Überwachungsfoto von Molavi gesehen. Der Einsatzplan ging davon aus, dass Molavi am frühen Abend zwischen fünf und sechs Uhr nach Hause kommen würde. Hakim wartete. Er hatte ein Buch in einer Papiertüte beisich, das
Schahnameh
, das Königsbuch des großen persischen Dichters Abu l-Qasem Firdausi. Es war auf einer Seite aufgeschlagen, die der Amerikaner, Mr. Fellows, ausgewählt und auf der er einige Zeilen mit gelbem Textmarker hervorgehoben hatte:
Er sprach: «Gebt mir alsbald Bericht,
Weist der Seel’ einen Weg zum Licht!»
Heimlich begehrt’ er von ihnen Bescheid
Von Gutem und Bösem im Laufe der Zeit.
«Wer wird mein Geschick aufs Haupt mir bringen?
Diesen Gurt und Thron und Kron’ abringen?
Das müßt ihr mir kund so eben tun,
Oder Verzicht aufs Leben tun.»
Das war Hakims Erkennungscode: ein persisches Gedicht, das Karim Molavi vor vielen Wochen einfach so hinaus in den Äther geschickt hatte. Falls die Zielperson die Zeilen nicht erkannte, musste die Mission sofort abgebrochen werden.
Die Oktobersonne stand bereits tief am Himmel und war schon fast untergegangen. Bald würde es dunkel sein, und dann konnte Hakim nicht mehr länger auf dem Gehsteig sitzen bleiben. Ein Wanderarbeiter, der nach Einbruch der Dunkelheit noch auf der Straße war, warf Fragen auf. Hakim sah auf die Uhr. Fast sechs. Der Einsatzplan sah vor, dass er bis Viertel nach sechs warten und dann verschwinden sollte. Die Minuten vergingen quälend langsam. Inzwischen sah Hakim jedes Mal auf, wenn er Schritte auf dem Gehweghörte. Männer und Frauen kehrten von der Arbeit zurück. Die wenigen, die ihn überhaupt ansahen, musterten ihn mit Abscheu, und einer murmelte sogar:
«Boro gom sho!»
– Hau ab! –, unternahm jedoch nichts.
Um zehn nach sechs erblickte Hakim einen kräftigen jungen Mann im schwarzen Anzug, der sich dem Haus näherte. Trotz der Abenddämmerung trug er noch seine Sonnenbrille, sodass sein Gesicht nur schlecht zu erkennen war. Er ging schnell und hatte es offensichtlich eilig, nach Hause zu kommen. Kurz bevor er bei Hakim war, bog er in den Betonweg ein, der zu dem Haus Nummer 29 führte. Hakim stand auf und ging auf ihn zu.
«Doktor Molavi, ich würde Ihnen gern ein Gedicht vorlesen», flüsterte er dem Mann in akzentfreiem Englisch zu. «Vielleicht erkennen Sie es ja wieder.»
Von einer Sekunde auf die andere hatte sich Hakims ganze Haltung verändert. Er stand jetzt hoch aufgerichtet da, mit geradem Rücken, und alle vorderindische Unterwürfigkeit schien von ihm abgefallen. Sein Akzent klang so akkurat britisch, als wäre er Professor Henry Higgins höchstpersönlich.
«Ein Gedicht, Sir», flüsterte er und zeigte dem Mann das Buch von Firdausi.
Der erschrockene Molavi war noch ein paar Schritte weiter auf das Haus zugeeilt, als Hakim ihn angesprochen hatte. Jetzt nahm er die Sonnenbrille ab und sah dem Pakistani in die Augen. Er schien nicht recht zu wissen, wie ihm geschah, wirkte aber neugierig und nachdenklich.
«Komm her, Junge», sagte er. Sie waren schon fast an der rettenden Haustür.
Hakim trat einen Schritt vor in den Schatten des Hauses und reichte Molavi das Buch, das er an der markierten Stelle aufschlug. Kopfschüttelnd las Molavi die Zeilen. Er murmelte auf Persisch vor sich hin: «
Gheyre ghabel e fahm.»
– Nicht zu glauben!
Hakim trat noch näher an ihn heran und drückte ihm mit einer raschen Bewegung die gefaltete Karteikarte in die Hand. Und der Iraner ergriff sie, trotz
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