Der Einsatz
seiner großen Angst.
Daraufhin nahm der Pakistani sofort wieder seine unterwürfige Haltung ein. In gebrochenem Farsi, mit englischen Einsprengseln und ein paar Worten Urdu erklärte er dem jungen Mann, es sei das falsche Haus, und schlich sich dann wieder zurück auf die Straße. Molavi hatte die Karteikarte inzwischen in die Tasche geschoben und betrat wenig später seine Wohnung.
26 Teheran
Karim Molavi saß in einem Sessel in seiner Wohnung und versuchte, sich zu beruhigen. Das Unglaubliche war tatsächlich eingetreten. Sie waren gekommen. Seine Finger kribbelten immer noch, dort, wo die Hand des Fremden ihn berührt hatte. Er steckte die Kopfhörer seines iPods in die Ohren und versuchte, sich mit indischen Sitar-Klängen zu beruhigen, konnte sich aber nicht auf die Musik konzentrieren.
Zum wiederholten Mal betrachtete er die Karteikarte und las die Worte, die zuoberst standen:
«Wir sind schon dabei, den Urlaub zu planen. Die Tickets bringen wir Ihnen persönlich vorbei.»
Sie hatten ihm versprochen, dass sie kommen würden, und nun waren sie tatsächlich da. Er las die Anweisungen durch, die ihn zu dem «Gerät» führen würden, und stellte fest, dass keine genaue Uhrzeit angegeben war, zu der er es abholen sollte. Die Botschaft sprach nur von «heute Abend». Molavi beschloss, sich gleich auf den Weg zu machen, bevor die Geheimpolizei Gelegenheit hatte, sich irgendwelche Fragen zu stellen, bevor die Nachbarn den Basidsch-Milizen von dem dreckigen Ausländer erzählen konnten, der sich nach Einbruch der Dunkelheit in ihrer Straße herumgetrieben hatte, und bevor seine eigene Panik die Oberhand gewann.
Im Kühlschrank fand er noch einen Lammspieß vom Besuch bei seinem Onkel. Er wärmte das Fleisch in der Mikrowelle auf und schob es in ein Stück Brot, war dann aber viel zu nervös, um zu essen. Fast automatisch zog er ein Fotoalbum aus dem Regal und betrachtete ein Bild, das seinen Vater als jungen Mann zeigte. Sein Blick war feurig und furchtlos. Lass sie niemals sehen, dass du Angst hast, hatte sein Vater ihm immer wieder eingeschärft. Deine Angst ist dein größter Verbündeter. Nimm sie an. Hab keine Angst vor der Angst, denn das merken sie sofort.
Molavi kramte seinen Stadtplan von Teheran hervor und studierte den Grundriss des Mellat-Parks, bis er sich ganz sicher zu sein glaubte, welche Stelle gemeint sein konnte. Er überlegte sich, wie er am schnellsten und unauffälligsten dorthin gelangen konnte, und rief sich den Weg detailliert ins Gedächtnis. Die Karteikarte lag auf dem Tisch neben dem Sessel, sie schien neonweiß zu strahlen, wie radioaktiv. Er ging damit ins Bad, verbrannte sie im Waschbecken und spülte die Asche anschließend die Toilette hinunter.
Dann betrachtete der junge Mann sein Spiegelbild. Den schwarzen Haarschopf. Den fast schon frommen Bart. Die Augen voller Angst und Sehnsucht. Wovor fürchtete er sich denn bloß? Das war doch sein großer Augenblick. Vor Monaten hatte er einen kleinen Stein ins Wasser geworfen, und nun schwappten die Wellen zu ihm zurück, um ihn in seinen sogenannten Urlaub zu tragen. Seine Hände zitterten. Er streckte sie von sich und versuchte, sie so ruhig wie möglich zu halten. Dann ging er zum Schrank und zog eine Jacke über, um sich vor der abendlichen Kühle zu schützen. Er knöpfte die Jacke zu und wollte bereits zur Tür, als ihm noch etwas einfiel. Er kehrte um und holte aus der Abstellkammer eine kleine Taschenlampe, die er in die Jackentasche steckte.
Molavi verließ sein Wohnhaus. Die Nacht war klar, am Himmel stand eine schmale Mondsichel, und selbst zwischen all dem Smog und den Lichtern von Teheran konnte man ein paar Sterne erkennen. Der schnellste Weg zum Park im Norden der Stadt wäre die Kordestan-Schnellstraße gewesen, doch Molavi entschied sich dagegen. Er ging zu Fuß bis zur U-Bahn -Station an der Moffateh-Straße, die fast anderthalb Kilometer entfernt lag, und fuhr dann in nördlicher Richtung bis zur Endstation am Mirdamad-Boulevard. Auf mögliche Verfolger achtete er nicht. Entweder er wurde überwacht oder eben nicht. Er lief ein paar Straßen weiter und nahm dann ein Taxi zum Piroozi-Platz in unmittelbarer Nähe des Mellat-Parks. Dann ging er langsam und bedächtig am südlichen Parkrand entlang, bis er den Pfad zum Märtyrerteich erreichte. Eine seltsame Ruhe war über ihn gekommen. Er war ein junger Atomphysiker, der einen Abendspaziergangim Park unternahm und seinen Gedanken nachhing. Wer wollte etwas anderes
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