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Der Einsatz

Der Einsatz

Titel: Der Einsatz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Ignatius
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Schutz. Wenn jeder ein Geheimnis hatte, warum sollten sie dann ausgerechnet nach ihm suchen?
    Azadi nahm die ausgedruckte Mail aus der Hosentasche, faltete sie vorsichtig auseinander und las sie zweimal aufmerksam durch. Es war eine an seine Abteilung adressierte Bitte um Informationen über neueste Literatur auf dem Gebiet der Röntgenstrahlenphysik. Der Absender war ein gewisser Doktor Karim Molavi, und er arbeitete bei der Elektronikfirma Tohid, von der Azadi schon einmal gehört hatte. Sie gehörte den Pasdaran. Aber kannte er diesen Doktor Karim Molavi? Die Übelkeit überkam ihn wieder.
    Und auf einmal wusste er, was zu tun war. Seine Angst gab es ihm ein. Er hatte das Kommunikationsgerät dabei, das ihm der Engländer bei ihrem ersten Treffen gegeben hatte, und jetzt tippte er alle Informationen aus der E-Mail ein. Den Namen, die Mailadresse, den Arbeitsplatz bei der Firma Tohid. Dann drückte er einen Knopf und schickte die Informationen in den Äther. Er zerriss den Ausdruck der E-Mail und wollte ihn gerade wegwerfen, als ihm einfiel, dass ja jemand die Papierschnipsel finden konnte. Deshalb steckte er sie in die Hosentasche, um sie zu Hause zu verbrennen und in der Toilette hinunterzuspülen. Was hätte er dafür gegeben, sich selbst hinunterspülen und auf diese Weise entkommen zu können. In die Niederlande, nach London oder auch bloß nach Doha.
    Jetzt würde er aufhören, Spion zu spielen. Diese Sache wurde ihm einfach zu heiß. Er würde das nächste Meeting mit den Briten in Doha sausenlassen und nie wieder auf ihre Nachrichten antworten. Er würde wieder in der Anonymität seines Labors an der Teheraner Universität verschwinden,regelmäßig zu den Freitagsgebeten gehen und sich so oft bis zum Boden verneigen, bis er eine Hornhaut auf der Stirn bekam.
    Azadi stieg den Berg wieder hinab. Seine Schritte waren schwer. Es war ja gut und schön, hier oben in Darband zu sein, hoch über den Lügen der Stadt, aber es war etwas ganz anderes, wieder in ihr Zentrum hinabzusteigen.
     
    In der Nacht versuchte Azadi sich dadurch zu beruhigen, dass er in einem seiner Lieblingsbücher las. Es war ein iranischer Roman mit dem Titel
Mein Onkel Napoleon
, der Mitte der siebziger Jahre verfasst worden war, zu der Zeit also, als Azadi geboren wurde. Er handelte von einem aufbrausenden alten Mann, der davon überzeugt war, dass die Briten jeden Aspekt des iranischen Lebens kontrollierten. Der Held, der «liebe Onkel Napoleon», nahm diesen Namen an, weil er sich so leidenschaftlich mit dem Hass des französischen Kaisers auf die Engländer identifizierte. Auch wenn die einzige britische Person, die der liebe Onkel Napoleon in seinem ganzen Leben zu Gesicht bekommen hatte, die herrische Frau eines indischen Geschäftsmannes war, ging er wie die meisten Iraner davon aus, dass die Briten und ihre Agenten überall waren. Zu der Zeit, als das Buch geschrieben wurde, waren noch sie der «Große Satan» und nicht die Amerikaner. Die Engländer waren gefährlich, aber auf eine geradezu phantastische Art und Weise. Asadollah, ein Freund des lieben Onkels, verwies seine Kameraden immer darauf, wie wichtig es sei, «nach San Francisco zu gehen», was eine Umschreibung dafür war, Sex zu haben. Gelang es einem nicht, nach SanFrancisco zu kommen, dann sollte man laut Asadollah wenigstens versuchen, es bis in die Nähe zu schaffen.
    Der liebe Onkel Napoleon war verrückt – oder vielleicht auch nicht. Er sagte die Dinge, die viele Leute dachten, aber nicht auszusprechen wagten. Die Briten waren gefährlich, sie waren der Grund allen Übels, ihre Agenten waren überall. Jeder Iraner glaubte das. Als in den Siebzigern aus dem Buch eine äußerst beliebte iranische Fernsehserie gemacht wurde, versuchten die Mullahs, sie zu verbieten, weil sie neben den Briten auch sie verspottete. Aber es gelang ihnen nicht. Genauso gut hätten sie versuchen können, den Leuten das Lachen zu verbieten.
    Azadi las
Mein Onkel Napoleon
deshalb so gerne, weil er dadurch etwaige Verfolger auf eine falsche Fährte locken konnte. Er zeigte damit, dass er die Engländer und ihre Spione verachtete, so wie jeder andere Iraner auch. Manchmal nahm er das Buch mit ins Labor und lachte, wenn er es in der Mittagspause las, an den lustigen Stellen laut auf. Doch das war nicht der einzige Grund. Obwohl es nur ein lächerlicher Witzroman war, rief ihm das Buch immer wieder ins Gedächtnis, dass es tatsächlich eine fremde Hand gab, die das Schicksal des Irans lenkte –

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