Der Einsatz

sich immer gefragt, wie sich die Leute wohl gefühlt haben mussten, die 1944 und 1945 auf der Universität geblieben waren und im Zweiten Weltkrieg nicht ihrem Land gedient hatten. Ob sie jemals über diese Schande hinweggekommen waren?
    Ende 2002, als Alex mit seiner Ausbildung zum Aufklärer begann, war klar, dass Amerika in den Irak einmarschieren würde, und Harry fragte sich, ob es ein Fehler gewesen war, seinem Jungen zu erlauben, zu den Marines zu gehen. Harry kannte den Mittleren Osten. Er hatte in Beirut eine schwere Zeit durchgemacht, als der dortige Stationschef entführt, gefoltert und ermordet worden war, und wusste, dass es in der arabischen Welt drunter und drüber ging. Die Vorstellung, im Irak eine Demokratie nach amerikanischem Modell zu installieren, erschien ihm vollkommen absurd, auch wenn er das innerhalb der CIA nie laut gesagt hatte. Das tat damals so gut wie niemand, bis auf ein paar Analysten, die dem Direktor zuarbeiteten. Schließlich war die Entscheidung, in den Irak einzumarschieren, längst gefallen.
    Harry wusste auch, dass das Weiße Haus log, wenn es einem augenzwinkernd nahelegte, Saddam Hussein habe irgendwie mit den Anschlägen des 11.   September in Verbindung gestanden. Sie sprachen es zwar nie offen aus, aberals Harry zum ersten Mal die grüne Zone in Bagdad besuchte und das Gemälde an der Wand der im Republikanischen Palast gelegenen Truppenkantine sah, wusste er, was das Weiße Haus seinen Soldaten suggerieren wollte. Das Gemälde zeigte die Twin Towers, eingerahmt von den Wappen der Streitkräfte, der New Yorker Polizei und der New Yorker Feuerwehr. Man hätte es genauso gut in Leuchtfarben an die Wand schreiben können: Darum geht es, Jungs! Schnappt euch die Kerle, die das World Trade Center zerstört haben.
    Suggestiv waren auch die Poster im Fitnessraum, der in einem ehemaligen Pizza-Hut-Restaurant untergebracht war. Eines zeigte Muhammed Ali, der über dem zu Boden gegangenen Sonny Liston stand und seine Faust wie eine gezogene Pistole in die Luft reckte. Das mochte ja noch angehen, aber daneben hing die Riesenvergrößerung eines Titelblatts des
Time Magazine
, das den Menschen des Jahres 2003 zeigte: «Der amerikanische Soldat». Dem war nichts mehr hinzuzufügen. Aber das größte Poster von allen, das allen Soldaten, die hier trainierten, immer vor Augen stand, war auch hier ein riesiges Bild des World Trade Center, das ebenso wie sein Pendant in der Kantine eine unmissverständliche Botschaft verkündete: Das waren diese irakischen Wichser. Jetzt könnt ihr es ihnen heimzahlen.
    Harry wusste, dass das eine Lüge war. Er hatte die Geheimdienstakten über Saddams Beziehungen zur al-Qaida studiert. Dank Adrians Unterstützung hatte er sogar die Berichte eines englischen Agenten gelesen, den der SIS im Jahr 2000 in den irakischen Mukhabarat eingeschleust hatte und der berichtete, Saddam habe Osama bin Ladens Vorschlagabgelehnt, mit ihm gemeinsame Sache gegen die Amerikaner zu machen.
    Es war alles eine Lüge, eine einzige, große Lüge. Aber Harry hatte Alex nichts davon gesagt, der draußen in Ramadi mit den Konsequenzen dieser Lüge leben musste. Und je mehr Wochen und Monate ins Land gingen, desto stärker begann es an Harry zu nagen. Er sagte nie ein Wort zu Alex. Wie auch? Solange der Junge im Irak war, musste er sein Vertrauen und seinen Glauben an diese Mission aufrechterhalten. Also ließ Harry seinen ganzen Ärger in die Berichte nach Washington strömen, und zwar in einer so unverblümten Sprache, dass sich seine Kollegen in Langley fragten, ob er beruflichen Selbstmord begehen wolle. Er war wütend auf die politischen Entscheidungsträger und auf das Weiße Haus – dabei war er in Wahrheit vor allem wütend auf sich selbst, weil er nicht eher den Mund aufgemacht hatte, nicht rechtzeitig genug, um seinen eigenen Sohn davor zu bewahren, die Last dieses kriminellen Fehlers tragen zu müssen, den Harry durch sein Schweigen toleriert hatte.
     
    Als Alex starb, versuchte der Kommandeur der Marines zunächst, die Nachricht von Harry fernzuhalten. Er wollte in die Grüne Zone fliegen und es ihm persönlich sagen. Aber Harry hatte bereits einen Bericht gelesen, der über das sichere Nachrichtennetz hereingekommen war. Der Hauptgefreite Alexander Pappas war bei einem Angriff der Aufständischen in der Nähe von Ramadi getötet worden. Er las die Zeilen einmal, dann ein zweites Mal, und dann stieß er einen gequälten Schrei aus, der durch das ganze