Der Einsatz
in den siebziger Jahren. Ein echter
coup de foudre
, wie die Franzosen das nannten. Andrea war klug und stark, dabei aber auch weiblich auf eine Weise, wie die meisten Frauen es damals längst aufgegeben hatten. An der Universität in Waltham, wo sie Lehramt studierte, waren alle hinter ihr her gewesen,von den Jura- und Medizinstudenten bis hin zu den jungen Ärzten im praktischen Jahr am Massachusetts General Hospital. Heute waren die Jungs von damals, die mit sehnsuchtsvollen Blicken an ihren kurzen Röcken und engsitzenden Blusen hingen, alle mehrfache Millionäre, und Andrea wäre dem Gedanken, Anwalts- oder Arztgattin zu werden, damals nicht einmal abgeneigt gewesen. Aber dann hatte sie Harry kennengelernt.
Sie waren sich überhaupt nur begegnet, weil ihre Eltern sich kannten. Harry war damals bereits bei der Armee, er hatte seine Ausbildung als Ranger gemacht und stand kurz vor der Beförderung zum Hauptmann. Dass er schon einige Auslandseinsätze absolviert hatte, über die er Stillschweigen bewahren musste, verlieh ihm zusätzlich etwas Geheimnisvolles. Und außerdem war er klug – nicht voll mit angelerntem Wissen wie die Medizinstudenten, sondern einfach intelligent. Er hatte eine ungewöhnlich große Allgemeinbildung und schien selbst gar nicht zu merken, wie außergewöhnlich er war. Andrea fühlte sich von dieser unprätentiösen Haltung angezogen. Außerdem war er groß und stark, und als sie sich am Ende des zweiten Rendezvous in seinen Armen wiederfand, hatte sie das Gefühl, genau dort hinzugehören. Harry besaß viel Humor und hatte immer eine ironische Bemerkung für die Wichtigtuer der High Society von Massachusetts parat, mit denen sie beide aufgewachsen waren. Er hatte Andrea zum Lachen gebracht, damals, als das Leben noch Spaß gemacht hatte und sie beide noch nicht wussten, was Verlust bedeutet.
Harry orderte Drinks und danach eine Flasche Wein. Er leerte seinen Whisky mit ein paar großen Schlucken, saß dann da und starrte auf das leere Glas, bis der Kellner den Wein ausschenkte. Er machte ganz den Eindruck, als wollte er sich betrinken, bekam aber gleichzeitig aus irgendeinem Grund kein Wort heraus. Langsam bekam Andrea Angst.
Und dann entgleisten ihr plötzlich die Gesichtszüge, weil es doch eigentlich auf der Hand lag: Harry wollte sie um die Scheidung bitten. Während der letzten paar Monate hatte er sich so weit von ihr entfernt, war immer wieder unangekündigt auf Reisen gegangen und hatte nicht einmal den Versuch gemacht, das zu erklären. Wieso hatte sie es nicht kommen sehen? Betrogen hatte er sie sicher nicht, das war nicht seine Art. Aber sie hatte zugelassen, dass er ihr immer mehr entglitten war, und jetzt musste er sich hier, in diesem viel zu teuren Restaurant, Mut antrinken, um die richtigen Worte zu finden. Aber was würde sie nur tun, wenn er sie verließ? Sie kam immer noch gut an beim anderen Geschlecht; im Fall des Falles würde sie bestimmt einen neuen Mann finden. Und wenn Harry sie nicht mehr liebte, würde sie ganz sicher nicht mit ihm verheiratet bleiben. Da hatte sie mindestens so viel Stolz wie er.
Harry saß ihr am Tisch gegenüber und schaute noch immer auf sein Glas. Er suchte nach Worten, versuchte, die Frage zu formulieren, auf die er eine Antwort brauchte. Dann griff er nach Andreas Hand, doch sie entzog sie ihm.
«Ich weiß nicht, wie ich dir das sagen soll, Andrea. Wahrscheinlich klingt es völlig verrückt. Aber ich versuche gerade herauszufinden, was Loyalität eigentlich bedeutet. Und darüber muss ich mit dir reden.»
«Dann rede endlich, Harry», sagte sie. «Aber treib keine Spielchen mit mir. Die Bedeutung von Loyalität ist doch ganz einfach. Man bleibt den Menschen treu, die einem etwas bedeuten.»
Harry nahm noch einen weiteren Schluck Wein. Andrea wirkte gereizter, als er erwartet hatte, aber das konnte er ihr kaum vorwerfen. Es war ja auch extrem schwierig, über dieses Thema zu sprechen.
«Aber was ist, wenn man sich in mehrere Loyalitäten verstrickt? Wenn man sich mit Leuten eingelassen hat, mit denen man sich nicht einlassen sollte?»
Andreas Hände fingen an zu zittern; sie legte sie unter dem Tisch in den Schoß, damit er es nicht sah.
«Dann musst du dir selbst treu bleiben, Harry, und deinen Werten. Mehr kann ich dazu nicht sagen. Und wenn das nicht geht, dann …» Sie sprach den Satz nicht zu Ende.
«Das denke ich auch. Aber ich versuche noch herauszufinden, was das genau bedeutet.»
Eine Träne kullerte ihr über
Weitere Kostenlose Bücher