Der Einsatz
die Wange. Sie wischte sie weg. Sie wollte auf keinen Fall weinen.
«Mein Gott, Harry, was ist denn bloß los? Sag es mir doch.»
«Ich kann nicht», erwiderte er. Er starrte schon wieder auf sein Weinglas und war so in seinem inneren Zwiespalt gefangen, dass er gar nicht merkte, wie seine Worte auf sie wirkten. Erst als er den Kopf hob, sah er, dass ihre Lippen zitterten und ihre Augen in Tränen schwammen.
Er musste lachen. Eigentlich wollte er das nicht, aber er konnte einfach nicht anders. Andreas Augen blitzten zornig auf, dann wurde ihr Blick weicher.
«Um Himmels willen, Andrea! Hier geht es doch nicht um uns beide.» Harry strich ihr über den Arm.
«Nicht?» Sie tupfte sich mit der Serviette die Tränen ab.
«Aber nein. Es geht um meine Arbeit. Mein Gott, das tut mir leid. Ich muss dir ja eine Heidenangst gemacht haben.»
«Ich dachte, du willst dich von mir scheiden lassen.»
«Scheiden lassen? Du bist doch alles, was ich noch habe.»
Andrea atmete tief durch und betrachtete ihre Fingernägel. Sie waren tiefrot lackiert. «Schenk mir noch ein Glas Wein ein, Harry. Und dann erzählst du mir von deinen Problemen bei der Arbeit.»
Und das tat er – zumindest alles, was er erzählen konnte, ohne echte Geheimnisse preiszugeben. Er zog das Sakko aus und lockerte seine Krawatte. Je mehr er trank, desto röter wurden seine Wangen, und irgendwann redete er wieder so lebhaft wie damals, zu Beginn ihrer Beziehung.
«Ich bin wirklich ein loyaler Mensch», sagte Harry. «Seit ich beim Geheimdienst bin, gehört mein Herz dieser Arbeit. Und das, obwohl diese Zuneigung selten genug erwidert wurde.»
«Das weiß ich, Harry.»
«Ich habe immer alles getan, was man mir gesagt hat, auch wenn ich wusste, dass es falsch war. Damals in Bagdad, da habe ich Dinge gesehen, die völliger Irrsinn waren. Ich habe in meinen Berichten nach Hause darauf hingewiesen, und als keiner auf mich gehört hat, habe ich noch mehr Berichte geschickt. Und trotzdem habe ich immer getan, was von mirverlangt wurde. Immer. Das war schließlich meine Pflicht.» Er wandte den Blick ab. «Doch dann ist irgendwas kaputtgegangen.»
Andrea griff nach seiner Hand, schloss ihre roten Nägel um seine geballte Faust.
«Als Alex tot war, konnte ich nicht mehr der aufrechte Soldat sein. Es hat ja nicht nur unseren Sohn getroffen, sondern auch all die vielen anderen jungen Burschen. Und wir wussten schon vorher, dass es so nicht gehen wird. Wir wussten es, verdammte Scheiße. Wir wussten es alle. Und trotzdem haben wir es zugelassen. Als Alex tot war, haben sie mir Zeit gegeben, mich wieder zu fangen. Sie haben mich zum Leiter der Iran-Abteilung gemacht, weil sie dachten, irgendwo tief drinnen wäre ich immer noch der aufrechte Soldat. Aber das bin ich nicht mehr. Und ich mache so etwas nicht noch einmal.»
«Wovon redest du denn bloß, Schatz?»
Harry sah ihr in die Augen. Er war nicht mehr im Zwiespalt. Er hatte einen Entschluss gefasst, und mit einem Mal wurde ihm klar, dass er Andrea vor diesem Entschluss schützen musste.
«Ich denke, du weißt, wovon ich rede», sagte er.
Sie nickte. «Vom Iran», sagte sie. Sie verstand ihn so viel besser, als ihm klar war.
«Es gibt hier Leute, die einen neuen Krieg anzetteln wollen. Und sie wollen, dass ich ihnen dabei helfe. Aber das mache ich nicht noch einmal.»
Andrea sah zu den anderen Tischen hinüber, doch niemand schien ihnen zuzuhören.
«Was wirst du denn dann tun», fragte sie leise, «wenn dunicht mehr den aufrechten Soldaten spielen kannst? Willst du kündigen?»
«Nein, ich glaube nicht. Das würde alles nur noch schlimmer machen.»
«Aber was denn dann?»
«Ich weiß es nicht.»
Ihre Miene verdüsterte sich. Sie hatte bereits angefangen, eins und eins zusammenzuzählen. «Du kannst dich doch nicht gegen sie stellen, Harry. Die machen dich fertig.»
Harry nickte. Er konnte nicht weiter über dieses Thema sprechen, nicht einmal mit Andrea. Vor allem nicht mit ihr. Falls es schiefging, würde man ihr irgendwann womöglich Fragen stellen.
«Ich werde nichts tun, was moralisch falsch oder einfach dumm ist. Vertrau mir.»
Andrea verdrehte die Augen.
Sie nahmen sich für die Nacht ein Zimmer im Hotel und schliefen miteinander, was sie schon seit Monaten nicht mehr getan hatten. Am folgenden Nachmittag brach Harry erneut nach London auf. Seinen Kollegen beim Geheimdienst erzählte er nichts davon.
21 Greater London
Am Sonntagmorgen holte Adrian Winkler Harry am Flughafen
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