Der einzige Ausweg: Ein Barcelona-Krimi (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
Geschöpf betrachtete, das in einer Art Aquarium ohne Wasser lag.
Aber vielleicht rührte die Angst ja auch nicht von dem Neugeborenen her, sagte sich Héctor, sondern von all dem, was Guillermo ihm hatte erzählen müssen, als er hereinkam, und was er selbst noch nicht ganz verarbeitet hatte. Während sie auf Neuigkeiten über Leires Zustand warteten, erfuhr Héctor nach und nach, wie und warum sein Sohn und Leire sich in Ruths Wohnung kennengelernt hatten, und auch die Geschichte von Charly. Verfluchter Charly … Héctor wusste nicht, ob er sauer sein sollte, nicht einmal auf wen, aber immerhin, ein paar lose Teile fügten sich: die Entwendung von Ruths Akte, die Weigerung der Unterinspektorin Andreu, ihm weitere Erklärungen zu geben …
»Bist du sauer?«, fragte Guillermo.
Ja, natürlich, dachte Héctor. Oder zumindest wäre er es, wäre er nicht zugleich so glücklich über dieses Kind, das da zur Welt gekommen war, schwach, aber gesund. Außerdem machte er sich Sorgen um Leire, die in ihrem Zimmer im Bett lag, mit ihrer Freundin María an der Seite. Ihre Familie würde am nächsten Tag kommen, und Héctor wollte nicht nach dem Vater des Kleinen fragen. Das Wichtigste war, dass weder Leire noch das Baby in Gefahr schwebten.
»Wir sprechen später von der Sache, einverstanden?«, sagte er und legte Guillermo den Arm um die Schultern. »Am besten gehen wir jetzt nach Hause. Hier haben wir nichts mehr zu suchen.«
Sie betrachteten noch ein paar Minuten Abel, der seine erste Nacht in einer Welt verbringen würde, die ihn nicht eben freundlich begrüßt hatte. Blieb zu hoffen, dass sie ihn von nun an glimpflicher behandelte.
Die Frau schaut die Welt mit verwirrten Augen an. Augen von einem verwaschenen Blau, die nicht mehr in der Lage sind, die Gegenwart so zu sehen, wie sie ist; verloren in den Nebeln einer Vergangenheit, die immer wieder hartnäckig zurückkehrt in dieses Schlafzimmer mit den schweren, von den Jahren gezeichneten Holzmöbeln. Die halb heruntergelassenen Jalousien dämpfen das hereinfallende Licht. Héctor traut sich nicht, sie hochzuziehen: Es ist klar, dass die alte Dame das Halbdunkel dem strahlenden Glanz der Sonne vorzieht. Ja, gehüllt in diesen freundlichen Dämmer geht es ihr besser. Die Helligkeit ist ihr zum Feind geworden. Im Sonnenlicht erhält alles zu deutliche und gleichzeitig zu ferne, unbekannte Konturen.
Héctor tritt auf den Sessel zu, in dem die alte Frau sitzt, dem Balkon zugewandt, und endlich scheint sie seine Anwesenheit zu bemerken. Für einen Moment verzieht sich die Wolke, die ihren Verstand trübt, nur ein wenig, aber sie erkennt, dass jemand dort ist: jemand, dessen Gesichtszüge ihr vertraut sind, auch wenn sie die schon lange nicht mehr gesehen hat.
»Hallo«, sagt er leise und tritt ein Stück heran. Er hebt die Hand, will ihr über die Wange streichen, eine trotz der Jahre und der Krankheit noch überraschend glatte Wange, doch er hält inne, gestoppt von der plötzlichen Panik, die die alte Frau überfällt. Sofort schießen ihr die Tränen in die Augen, was Héctor kaum sehen kann, denn die Frau bedeckt sich das Gesicht mit dem Arm, als wollte sie sich vor einem Angreifer schützen. »Schlag mich nicht. Bitte. Nicht weiterschlagen.«
Héctor tritt einen Schritt zurück und sieht sich in dem Spiegel an der Wand, einem Spiegel so alt wie die Möbel, mit goldenem Rahmen. Und da begreift er, was seine Mutter so erschreckt. Sie sieht nicht ihn, Héctor, ihren Sohn, aber sie erkennt sein Gesicht. Das Gesicht von ihrem Mann, diesem Scheißkerl, der sie jahrelang verprügelt hat, unbemerkt von allen, hier im Schlafzimmer.
Das Schlimmste ist, dass auch er ihn im Spiegel erkennt: in seinem Spiegelbild, in seinem eigenen Gesicht.
Das Schlimmste war, sagte sich Héctor, der nicht schlafen konnte und mitten in der Nacht noch auf der Terrasse stand, dass es sich nicht um einen gewöhnlichen Albtraum handelte, sondern um eine echte, schmerzliche Erinnerung. Die Erinnerung an die letzte Reise nach Buenos Aires, als seine Mutter noch lebte, vor sieben Jahren. Es war die Reise, die das Ende seiner Beziehung mit Lola markierte und den Beginn einer neuen Phase seiner Ehe mit Ruth. Es gab viele Arten, der eigenen Frau wehzutun. Ihr Schläge zu versetzen, ohne dass jemand es sah. Ihr Leid zuzufügen.
Und das durfte er sich nicht erlauben, sich selber nicht antun.
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»Bist du dir sicher, dass diese Person bei der Geldübergabe erscheint?«, fragte Lola. Sie war zum
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