Der einzige Ausweg: Ein Barcelona-Krimi (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
umgebracht hat, wenn sie es denn getan hat.«
»Was sagst du?« Seine Stimme war nur ein Säuseln.
»Ich bekomme alles mit, César. Mama telefoniert mit dir und denkt, dass ich sie nicht höre.« Sie lachte, ein herbes Lachen, unpassend für ihr Alter, krankhaft. Und sagte noch einmal: »Ich weiß immer alles. Vergiss das nicht.« Sie machte eine Pause, tat einen Schritt auf ihn zu, senkte ein wenig den Kopf. Die Tränen, wenn es denn welche gab, waren verschwunden, verschluckt vom Gefühl des Sieges. »Gibst du mir jetzt das Küsschen? Nur eins … Ein Papiküsschen.«
Für einen Moment wusste er nicht, ob er ihr den Kuss geben sollte oder eine schallende Ohrfeige. Und reglos dort stehend, schwitzend, begriff er entsetzt, dass er auch nicht wusste, welche der beiden Möglichkeiten ihn mehr erregte.
10
Es war eine seltsame Nacht für Januar. Ruhig, friedlich. Trügerisch warm. Mit ein wenig gutem Willen konnte man sogar hier und da einen Stern erkennen, der sich durch diesen großen Schleier, welcher längst zum einzigen Himmel über Barcelona geworden war, hindurchtraute. Wenn wir die Stadt weiter so verpesten, dachte Héctor, werden sich die Christen ein anderes Synonym für das Paradies suchen müssen, irgendeine ferne Insel oder so, denn dort oben wird niemand wohnen wollen. Vielleicht nehmen sie den Himmel als Fegefeuer, ein Ort, den er sich immer schmutzig braun vorgestellt hatte, und bringen dort die kleinen Sünderlein unter. Die richtigen Sünder können weiter zur Hölle fahren. So wie die Selbstmörder.
Er hatte es noch nie verstanden, dass die Kirche sie unwiderruflich verdammte. Keine Rechtfertigung konnte jene, die sich das Leben nahmen, erlösen. Es gab keine guten oder bösen Selbstmörder. Alle erhielten dieselbe Strafe, ohne Ausnahme. Über das eigene Leben zu verfügen war die schlimmste aller Sünden. Tja, wenn uns nicht mal das bleibt, was dann?, dachte Héctor und steckte sich seine vierte Zigarette auf der Dachterrasse an. Rauchen und sich langsam umbringen. Er musste schmunzeln, trat ans Geländer und stieß eine Rauchwolke aus, um den nächtlichen Himmel noch weiter einzutrüben. Auf natürlichem Wege würde der Schlaf jedenfalls nicht kommen.
Dabei hatte der Abend recht vielversprechend begonnen. Zu Weihnachten hatte er Guillermo, durchaus als Wink mit dem Zaunpfahl, ein Paar Joggingschuhe gekauft, ein Geschenk, das sein Sohn mit demselben Interesse betrachtete, als wäre es eine Strickmaschine. Doch gestern, beim Frühstück, fragte ihn der Junge auf einmal – mit kieksender Stimme, wohl ein Markenzeichen der Pubertierenden –, wann er laufen gehe. Héctor hatte gleich eingeschlagen, nicht dass sein Sohn einen Rückzieher machte. Dienstagabend, gegen acht.
Und tatsächlich. Als er kurz nach halb neun nach Hause kam, erwartete ihn Guillermo schon fertig angezogen. Ohne viel auf sein Gemaule wegen der Verspätung zu geben, zog Héctor sich die kurze Hose an und schlüpfte in die Schuhe. Er hatte schon den Verdacht, dass die Idee, »etwas gemeinsam zu unternehmen«, nicht so gut war, wie er sich beim Kauf des Geschenks ausgemalt hatte. Die moderne Pädagogik verkleistert uns nur das Gehirn, dachte er, als sie loszogen. Guillermos Gesicht verhieß nichts Gutes.
Und die Ahnungen erfüllten sich. Zum Teil lag es an dem Jungen, zum Teil an ihm. Wie immer. Er war es nicht gewohnt, in Begleitung zu joggen, und es machte ihn nervös, dauernd auf jemanden warten zu müssen. Andererseits schämte Guillermo sich offenbar, mit seinem Vater Sport zu treiben, noch dazu wo der besser in Form war als er. Beim Laufen sprach zwar niemand viel, aber die Stille, die sich zwischen sie schob, war angespannt. Héctor hatte eine kurze Strecke gewählt, geradeaus, am Meer entlang, doch er lief in einem schnelleren Rhythmus und ließ seinen Sohn, selbst wenn er das Tempo herausnahm, immer wieder hinter sich. Zum Schluss, als er ihm dann doch mal zurief: »Mensch, Guille, mach mal ein bisschen schneller«, blickte der ihn an, als hätte er ihm die schlimmste aller Demütigungen angetan. Und mit finsterer Miene drehte der Junge um und lief in die Gegenrichtung, jetzt aber wie der Wind. Héctor war erst unschlüssig, ob er ihm folgen oder die Strecke weiterlaufen sollte. Aber natürlich wusste er, dass es besser wäre, zu warten, bis die Gemüter sich beruhigten.
Als er nach Hause kam, hatte sein Sohn sich bereits geduscht und in seinem Zimmer eingeschlossen. Offenbar hatte er auch schon zu Abend gegessen,
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