Der einzige Ausweg: Ein Barcelona-Krimi (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
sie konnte sich einfach nicht vorstellen, dass die Frau, mit der sie dort am Tisch saß, für Geld tötete –, gab es in diesem Fall eine nicht zu leugnende Tatsache: Ruth war lebend für sie mehr wert als tot. Sie war noch jung, hatte viele Jahre im Beruf vor sich, würde einen Gewinn generieren, an dem Carol teilhätte. Ohne den kreativen Kopf bliebe der kommerziellen Seite nichts mehr zu vermarkten. Trotzdem notierte sie sich in Gedanken, dass sie die finanzielle Lage ihrer gemeinsamen Firma untersuchen sollte. Die Gefahr bei jeder Ermittlung war, allein aufgrund persönlicher Eindrücke oder vorgefasster Meinungen Dinge auszuklammern. Aber wie auch immer, erst einmal sollte sie sich auf die Möglichkeit konzentrieren, die Räume zu sehen, in denen Ruth gelebt und gearbeitet hatte. Nur fürchtete sie,Carol könnte ihr Angebot zurücknehmen, wenn sie nicht sofort zuschlug, so dass sie geradeheraus fragte:
»Hast du es eilig? Ich meine, es ist noch nicht allzu spät. Wenn es dir nichts ausmacht, könnten wir jetzt gleich zu Ruths Wohnung gehen.«
»Jetzt gleich?« Carol blickte unschlüssig.
»Mir würde es passen.« Sie wollte nicht drängen, aber dranbleiben. Es war ihr gelungen, ein vertrauensvolles, kooperatives Klima herzustellen, und das konnte abkühlen, sobald sie sich trennten.
Sie irrte sich nicht. Carol überlegte und willigte ein.
»Einverstanden. Der Wagen steht in der Garage, die Schlüssel habe ich dabei. Ehrlich gesagt, ich habe es noch nicht geschafft, sie zu Hause zu lassen.«
Leire sagte nichts weiter. Sie zahlte, ohne etwas auf Carols Einspruch zu geben, und ging zur Tür. Je eher sie draußen wären, umso geringer die Wahrscheinlichkeit, dass Carol es sich anders überlegte.
13
Verlassene Wohnungen sind wie in Vergessenheit geratene Schauspielerinnen, dachte Leire. Immer in Schale und darauf wartend, dass jemand kommt, der ihnen einen Sinn gibt, sie zurückholt ins pralle Leben, auch wenn sie es nicht schaffen, den Eindruck des Verstaubten und Abgestandenen loszuwerden, der leisen Verwahrlosung, so dass sie nicht anziehend wirken, sondern abstoßend. Ruths Wohnung, großzügig geschnitten und mit hohen Decken, sah noch leerer aus, noch bedrückender.
Es war kein richtiges Loft, eher eine Mischung aus Atelier und herkömmlicher Wohnung. Auf der einen Seite befand sich das Wohnzimmer, abgetrennt von der Küche durch eine Esstheke; eine dünne Zwischenwand schluckte ein paar Meter: Guillermos ehemaliges Zimmer. Auf der anderen Seite, am Ende eines langen, ein wenig düsteren Flurs, gab es einen weiteren Raum mit quadratischem Grundriss, ausgestattet als Atelier und ebenfalls mit ein paar Gipskartonwänden, hinter denen Ruths Schlafzimmer lag. Im Grunde waren es zwei symmetrische Wohnungen, verbunden durch diesen Flur.
Als ahnte sie den ärmlichen Eindruck, den die Wohnung machte, hatte Carol gleich überall das Licht angeknipst, und irgendwie gelang es ihr, diese kalten Räume zu beleben. Leire stand mitten im Wohnzimmer und konnte sich genau vorstellen, wie Ruth und ihr Sohn auf der braunen Ledercouch vor der Ziegelwand saßen. Die anderen Wände waren weiß. Sie ließ ihren Blick durch den Raum schweifen, über die hellbraunen Balken an der Decke. Ein paar große, abstrakte Bilder kontrastierten mit der Nüchternheit des Sofas, und ein riesiger Teppich – eins von Ruths Mustern –veredelte den Holzfußboden, dem ein ordentlicher Schliff bestimmt gutgetan hätte. In den Ecken stapelten sich Bücher, aber im Ganzen hatte es nichts von Schlampigkeit, eher von dieser behaglichen Unordnung, die jene Orte verströmen, wo die Leute ruhig, entspannt und einfach nur glücklich leben.
»Das Atelier ist am Ende des Flurs. Wenn es dir nichts ausmacht, warte ich lieber hier.«
Leire verstand es gut. Sicher hatten Ruth und Carol dort mehr gemeinsame Zeit verbracht als im Wohnzimmer. Sowenig sie sie kannte, ahnte sie doch, dass Ruth Wert legte auf ihre eigene Sphäre. Sie konnte sich nicht vorstellen, wie sie mit jemandem, ob Mann oder Frau, auf der Wohnzimmercouch turtelte, neben dem Zimmer ihres Sohns.
Das Atelier war wie bei einer Illustratorin zu erwarten. Zwei Tische, einer mit einem Computer, der andere, größere, wie Leire ihn vom Kunstunterricht auf dem Gymnasium kannte, darauf jede Menge Mappen, alle mit einem entsprechenden Aufkleber. Ruth Valldaura war eine ordnungsliebende Person, ohne zu übertreiben. Eine vernünftige Person, dachte Leire, die weder Chaos noch penible Reinlichkeit
Weitere Kostenlose Bücher