Der einzige Ausweg: Ein Barcelona-Krimi (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
ertrug. Sie warf einen Blick auf die Arbeiten, die den Tisch bedeckten, zum größten Teil Illustrationen für einen Band mit Haikus.
Die Eleganz, die ihr schon auf Fotos der Verschwundenen begegnet war, fand sich auch in ihren Zeichnungen wieder: ein einfacher, aber ausdrucksstarker Strich. Ruth sprach durch ihre Zeichnungen. Jede einzelne, die Leire vor sich hatte, erzählte eine kleine Geschichte.
»Entschuldige.« Carols Stimme wehte vom anderen Ende der Wohnung herüber. »Brauchst du noch lange?«
Es war die höfliche Variante von »Gehen wir endlich«, aber Leire tat, als hätte sie nichts gehört. Doch bald wurde ihr klar, dass sie, wenn sie sich alles gründlich ansehen wollte, mehr Zeit benötigte. Das ist das Dumme, wenn du auf eigene Faust ermittelst, sagte sie sich. Sie beugte sich über die großen Mappen auf dem Boden, auch wenn sie weder genau wusste, wonach sie suchte, noch, was es ihr bringen konnte. Nichts wahrscheinlich. Und dennoch, ein Teil von Ruths Wesen musste sich einfach in ihrer Arbeit spiegeln. Sie verschob die Mappen, schaute auf die Schildchen. Die kommerzielleren Sachen interessierten sie wenig, sie vertraute darauf, etwas anderes zu finden, persönlicher, intimer … Zeichnungen, die eine Künstlerin für sich selbst macht, nicht auf Bestellung.
Carol drängte, und diesmal antwortete Leire mit einem vagen »Sekunde noch, bin gleich fertig«. Sie wurde schon nervös, erwog die Möglichkeit, sie um die Schlüssel zu bitten und ein andermal wiederzukommen, als eine kleinere Mappe, wie zum Ablegen von Quittungen, in einer sehr viel größeren auftauchte. Sie war unbeschriftet, so dass sie sie öffnete und einen raschen Blick hineinwarf. Skrupel hatte Leire nie gekannt: Die Mappe passte in ihre Umhängetasche, also steckte sie sie ein und ging zu Carol. Die war schon derart unruhig, dass sie gar nicht auf Leire achtete.
Sie löschten alle Lichter und traten ins Treppenhaus. Die Tür schloss sich mit einem leisen, traurigen Ächzen.
Carol wollte sie unbedingt nach Hause bringen. Leire protestierte nur matt, auch wenn sie bei dem Gedanken an ihre Tasche das Gefühl hatte, sie sei eine undankbare Diebin. Unterwegs sprachen sie nur wenig, es gab nichts mehr zu sagen, und als sie ankamen, war klar, dass Carol gleich weiterwollte.
»Übrigens«, sagte die, bevor sie sich verabschiedete, »ich weiß nicht, was du da am Handy für eine Geschichte am Laufen hattest, als ich reinkam, aber ein flatterndes Herz sorgt nicht dafür, dass du dich besser fühlst.«
Leire war so verdutzt, dass sie erst Sekunden später reagierte. Die Nachricht von Tomás hatte sie völlig vergessen.
»Na ja«, sagte sie und schaute auf ihren Bauch, »es wäre nicht gut, wenn das Kind schon jetzt keinen Vater hätte.«
Carol sagte nichts, lächelte nur. Vom Bürgersteig aus sah Leire noch, wie sie um die Ecke bog, dann trat sie ins Haus. Sie fuhr mit dem Aufzug hoch, allein, und dachte, dass es schon schön wäre, wenn jemand sie oben erwartete. Vielleicht wegen des Gesprächs mit Carol. Die Liebe der anderen ruft immer Neid hervor, und dass diese Frau mit Ruth eine echte Liebe gelebt hatte, daran hatte sie keinen Zweifel. Ob erwidert oder nicht, war nicht so wichtig. Carol hatte Ruth geliebt, und Héctor auch. Zweifel hatte sie allerdings, ob jemand sie selbst einmal so geliebt hatte, und sie überkam eine ungeheure Lust, das Objekt dieser Leidenschaften kennenzulernen, Ruth zu fragen, was ihr Geheimnis war, ihr Zaubertrank, die magische Formel, mit der sie Männer und Frauen in ihren Bann schlug. Und in dem Moment war sie fest davon überzeugt, dass Menschen, die diesen Zauber besitzen, in Gefahr sind. Denn immer gibt es jemanden, der sie aus der Ferne liebt, oder der sie zu sehr liebt. Oder der es einfach nicht aushält, sie auf diese Weise zu lieben.
Kaum saß Leire in ihrer Wohnung auf dem Sofa, schlug sie die Mappe mit dem vertrauten Gefühl auf, eine verwerfliche Tat zu begehen, noch dazu, wo sie bestimmt nichts Brauchbares fände und allenfalls ihre Neugier zu Ruths Person befriedigte. Andererseits waren die Menschen wahrscheinlich alle, betrachtete man ihr Leben unter der Lupe, gleichermaßen interessant, die Details bereicherten selbst die unbedeutendsten Existenzen.
In der Mappe steckten, kunterbunt durcheinander, Zeichnungen, Quittungen, Broschüren von Ausstellungen, Zeitungsausschnitte und ein paar alte Fotos. Leire sah alles mit der Geduld eines Sammlers durch. Zwar behaupteten diejenigen, die sie
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