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Der einzige Ausweg: Ein Barcelona-Krimi (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Der einzige Ausweg: Ein Barcelona-Krimi (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Titel: Der einzige Ausweg: Ein Barcelona-Krimi (suhrkamp taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonio Hill
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kannten, sie sei eine Frau der Tat, aber wenn etwas die Kriminalbeamtin Castro auszeichnete, dann die Besessenheit, mit der sie jeder einzelnen Spur nachging und jeden Hinweis gründlich prüfte. So trennte sie erst einmal, nicht müde, nur wie jeden Abend erschöpft, sorgfältig die Fotos von den Zeichnungen, die Quittungen von den Zetteln mit einer Telefonnummer oder einer Adresse. Bald hatte sie mehrere Stapel, und um es hinter sich zu bringen, sah sie die Quittungen und Broschüren durch, die, wie zu erwarten, wenig aufschlussreich waren. Dass Ruth sich für Kunst interessierte, für Designausstellungen und Fotografie, war nichts Neues. Dann nahm sie sich, da es nicht viele waren, die Fotos vor.
    Einige waren ziemlich seltsam. Gut möglich, dass Ruth sie gemacht hatte. Ein Schatten auf dem Boden, ein Gully, ein Wolkenhimmel. Natürlich gab es auch welche von ihr mit Carol, sehr wenige, und ein paar ältere, von Ruth mit Guillermo oder von Ruth mit Héctor. Bei einem hielt Leire inne und betrachtete ihren Chef, etwas jünger, aber mit dem bekannten, ewigen Blick eines traurigen Hundes, selbst wenn er lächelte. Auf diesem Foto sah Ruth strahlend aus, während Héctor sie von der Seite anschaute, als könnte er nicht glauben, dass diese Frau tatsächlich neben ihm stand, und das nicht nur zufällig. Sie dagegen schaute mit einer Klarheit in die Kamera, wie es glückliche Menschen tun. Es gab noch ein paar weitere Fotos von diesem Tag, etwa fünf Jahre her, denn Guillermo schien nicht älter zu sein als acht oder neun. Ein ernster Junge, im Ausdruck seinem Vater ähnlich, im Aussehen seiner Mutter.
    Neben den Familienbildern blieb nur noch ein Foto übrig, wie Leire feststellte, ein sehr viel älteres. Zwei Mädchen im Turnanzug. Mit den Trikots und ihren Frisuren sahen sie fast gleich aus, doch als Leire sie von nahem betrachtete, erkannte sie in einer von ihnen Ruth, die andere war wohleine Freundin oder Klassenkameradin. Zum Glück stand auf der Rückseite ein handgeschriebenes Datum: »Barcelona 1984«. Ruth war damals also dreizehn Jahre alt.
    Der nächste Stapel waren die Zeichnungen, zum Teil bloße Skizzen. Ein Bild fiel ihr gleich auf, denn es war eindeutig das Mädchen auf dem Foto neben Ruth. Leire bewunderte erneut ihr Talent: Ein paar einfache Striche, und schon schaute dort ein ernstes Gesicht, sofort wiedererkennbar. Auf der Zeichnung war das Mädchen schon etwas älter und trug eine Art Umhang. Es stand an einer Steilküste und schaute hinunter. Ruth hatte die Freundin gemalt, als sähe sie sie vor sich, als hinge sie selbst in der Luft oder betrachtete sie vom Boden des Abgrunds aus. Etwas an dieser Zeichnung war beunruhigend, die tragische Aura, die das Mädchen umgab. Darunter war etwas geschrieben, ohne Zweifel Ruths Schrift, aber Leire konnte es erst nach einer Weile entziffern.
    Liebe schafft ewige Schuld.
    Der Satz ging ihr im Kopf herum, während sie den letzten Papierstapel in Angriff nahm: Adressen und Telefonnummern, Zeitungsausschnitte. Sie hatte keine Hoffnung, irgendetwas zu finden, weshalb sie einem notierten Straßennamen erst keine größere Beachtung schenkte. Doch dann schlug ihr Herz schneller. Auf dem Zettel erkannte sie die Adresse und die Telefonnummer von Dr. Omar.

14
    Nach einem gesunden und ausgewogenen Frühstück, ohne diesen Donut, aus dem es ein paar Monate zuvor noch bestanden hatte, trat Leire am nächsten Morgen auf die Straße. Es war kälter geworden, genau wie von den Meteorologen vorhergesagt, die schon seit Tagen in apokalyptischem Ton die Ankunft eines echten Winters verkündeten. Und so beschloss sie, auch wenn sie rechtzeitig losgegangen war, sich ein Taxi zu leisten. Gerne machte sie den Besuch nicht, absolut nicht, aber sie hielt ihn für notwendig, und wider Erwarten hatte es von oben keine Einwände gegeben. Um zwölf Uhr würde Montserrat Martorell sie empfangen, Ruths Mutter. Die hatte sie nur gebeten, in einem Ton, der wenig von einer Bitte hatte und viel von einer Warnung, sie möge pünktlich sein; ihr Mann gehe jeden Tag um diese Zeit aus dem Haus, und es sei auch »besser, wenn er nicht dabei ist, es regt ihn zu sehr auf«. Kein Wunder.
    Der Taxifahrer setzte sie an der Plaza de Sarrià ab, nahe der Fußgängerzone, wo Ruth Valldaura aufgewachsen war, in einem Viertel, das sich kaum deutlicher hätte unterscheiden können von dem Ort, an dem sie zum Schluss lebte. Der Platz an sich war ziemlich hässlich, aber bestimmt war es eine angenehme Gegend,

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