Der einzige Ausweg: Ein Barcelona-Krimi (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
sagte Montserrat Martorell. »Die Beziehung zu meiner Tochter war jedenfalls gut. Sie war nicht abhängig von uns, denn so habe ich sie erzogen. Damit sie unabhängig ist, das Leben meistert, ihren Weg geht. Und das habe ich geschafft.«
»Und Ihr Mann?«
Die Frau machte eine vage Handbewegung, als wäre das nicht von Bedeutung.
»Die Männer taugten nicht viel, wenn es darum ging, die Töchter zu erziehen. Wenigstens früher. Nur verwöhnen, das konnten sie.«
Leire beobachtete sie. Ihre scheinbare Ungerührtheit erstaunte sie, und sie hatte den Eindruck, dass sich hinter der Fassade ein fürchterlich übellauniges Wesen verbarg.
»Was, glauben Sie, ist mit Ruth passiert?«
»Erst einmal glaube ich, dass die Polizei ihre Arbeit nicht gemacht hat, denn sonst würden wir jetzt nicht davon sprechen. Dann glaube ich, dass mein Schwiegersohn oder, wenn Sie wollen, mein ehemaliger Schwiegersohn genauso unfähig war, seine Frau an sich zu binden, wie er unfähig war, in der Sache zu ermitteln. Außerdem glaube ich, dass es Ihnen peinlich sein sollte, ein halbes Jahr später zu mir zu kommen und mir einen Haufen Fragen zu stellen, denen nur zu entnehmen ist, dass Sie keine Ahnung haben, was mitRuth passiert ist. Und wissen Sie, was ich noch glaube? Ich glaube, dass meine Tochter nie allein in diesem Viertel hätte leben sollen, dass die Stadt voller Verbrecher ist und dass niemand etwas dagegen tut. Nein, es war mir egal, dass Ruth mit einer anderen Frau ins Bett ging. Auch dass sie ihren Mann verlassen hat, der hatte es verdient. Was mir nicht egal ist, was mich um den Verstand bringt, ist … dass ich bis heute nicht weiß, ob meine Tochter tot ist oder nicht. Ich weiß nicht, ob ich weinen soll oder ob es noch Hoffnung gibt. Ich weiß nicht, ob …« Sie stockte, verstört, und musste sich sichtlich zusammenreißen. »Wenn Sie nichts weiter hinzuzufügen haben, möchte ich Sie jetzt bitten zu gehen. Mein Mann kommt jeden Moment.«
Die Antwort war derart schroff, dass Leire sogar im Sitzen zurückzuckte.
Sie stand so rasch auf, wie ihr dicker Bauch es erlaubte. Einen solchen Anschiss hatte sie sich seit Jahren nicht eingefangen. Doch dann stellte sie noch eine Frage, ob aus verletztem Stolz oder weil sie sich einen würdigen Abgang verschaffen wollte:
»Sie sagten eben, dass ein Kind seine Mutter kaum überraschen kann. Ich nehme an, damit wollten Sie sagen, dass Sie Ruth gut kannten. Gab es ein anderes Mädchen in ihrem Leben? Ich meine, viel früher, als Ruth noch jünger war und hier wohnte.« Sie dachte an das Mädchen auf dem Foto, an der Steilküste.
Die Frau blickte sie an, als hätte dieses schwangere junge Ding auf einmal etwas Vernünftiges gesagt.
»Natürlich, eine Freundin. Sie hieß Patricia, Patricia Alzina. Sie hat zusammen mit Ruth Rhythmische Gymnastik gemacht. Ihre beste Freundin.«
»Und was ist passiert?«
Montserrat Martorell wandte den Blick ab, senkte die Lider und antwortete mit neutraler Stimme, weniger gleichgültig, als ihr wohl lieb gewesen wäre.
»Patricia ist mit neunzehn tödlich verunglückt, auf dem Weg nach Sitges zu ihren Eltern. Sie war noch unerfahren am Steuer und hat in den Bergen des Garraf die Kontrolle über den Wagen verloren. Sie ist von der Straße abgekommen und hinuntergestürzt.«
GASPAR
15
Mit einem Handschlag brachte César das Autoradio zum Schweigen. Auf diesem kurvenreichen Teil der Landstraße war der Empfang ständig gestört, und die zerhackten Sätze machten ihn nervös. Außerdem war ihm nicht danach, einer Gesprächsrunde zuzuhören, in der die Sportreporter Mannschaftsaufstellungen herbeteten und Spielzüge analysierten, noch dazu in einem ätzenden Ton, als säßen sie in einer Klatschsendung.
Er brauchte Stille, vollkommene Stille, musste an all das denken, was gerade passierte. An Sara, an Gaspar, an die aufgeknüpften Hunde und, aber das war eine andere Baustelle, an Emma und das Risiko, das dieses verzogene Balg für seine Beziehung mit Sílvia bedeutete. Zu viele Probleme, sagte er sich, während er in den zweiten Gang herunterschaltete und die nächste Kehre nahm, hin zu der kleinen Gemeinde Torrelles de Llobregat, wo Octavi Pujades wohnte. Alles bloß seinetwegen, dachte César. Er hatte nie verstanden, wieso die Leute es auf sich nahmen und so weit aus der Stadt hinauszogen, nur um ein Haus zu haben, ohne Nachbarn Wand an Wand; um diesen absurden Frieden zu genießen, der ihnen dann irgendwann auf die Nerven ging. Er war noch nicht
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