Der einzige Ausweg: Ein Barcelona-Krimi (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
Hause weggelaufen war. Hatte ihr eine Stelle in der Firma gegeben, auch wenn er dafür sorgte, dass ihr Bruder, der gute Zwilling, einmal der Erbe wäre. Alter Heuchler. Erst die geballte Lektion in Moral, und dann stirbt er an einem Herzinfarkt im Bett einer kubanischen Nutte. Zum Glück war Víctor leicht zu lenken, und über die Jahre hatte sie sich ausreichend Zynismus zugelegt, umnicht aller Welt zu verkünden, dass die Mittelmäßigkeit ihres Bruders das Unternehmen ruiniert hätte, wenn sie nicht da gewesen wäre; wenn sie nicht aus dem Schatten heraus das Ruder übernommen und unnötige Ausgaben und verrückte Risiken verhindert hätte, vor allem als es dann aufwärts ging. Aber Víctor war ja auch bis über beide Ohren verliebt in diese dumme Kuh von Paula. Er hatte sich immer weniger ins Geschäft eingemischt und die Firma praktisch ihr überlassen.
Was ihn nicht viel kostet, sagte sich Sílvia. Aber im Gegenzug hatte sie etwas bekommen, was ihr mehr bedeutete als Geld: Macht. Und Macht macht süchtig, die würde sie bestimmt nicht aufgeben.
So wie eben. Sie wollte gerade gehen, als Saúl, ihr zweiter Mann an Bord, anmerkte, Alfred Santos würde gerne mit ihr sprechen. Der technische Leiter des Labors war ein liebenswürdiger Zeitgenosse, leicht im Umgang, einer dieser Menschen, die einem wenig Kopfzerbrechen bereiten. Sie hatte ihn gleich kommen lassen. Wenn es jemanden gab, der es verdiente, dass man ihm zuhörte, dann Santos. Wegen einer Lappalie würde der sie bestimmt nicht behelligen.
Und tatsächlich, es war keine Lappalie. Ein empörter Santos, so aufgebracht, wie sie ihn noch nie gesehen hatte, erläuterte ihr über eine halbe Stunde lang die Probleme, die Manel Caballero im Labor bereite, all die Fehler und Konflikte. So viele und, nach Santos’ Ansicht, auch so erhebliche, dass er entschlossen war, ihn zu entlassen. Wenn er es nicht schon längst getan habe, dann weil die Kommentare des Assistenten durchscheinen ließen, er könnte sich, wenn notwendig, an Instanzen über seinem direkten Vorgesetzten wenden, dann wäre Santos vor der ganzen Abteilung blamiert. Sílvia musste all ihr diplomatisches Geschick aufbieten, damit dieser Schwachkopf seine Stelle behielt. Und nach ewigem Hin und Her, mit Ausreden und Argumenten,die aus dem Handbuch für den feigen Unternehmer zu stammen schienen, hatte Santos ihr fest in die Augen gesehen und gebrummt: »Verstehe, du entlässt ihn nicht. Er hat also recht: Ich habe hier nichts zu melden.« Sílvia Alemany hatte zum ersten Mal nicht gewusst, was sie antworten sollte. »Ich weiß nicht, was zum Teufel hier los ist, aber mir gefällt das nicht. Selbstmorde, Volltrottel, die sich für den Mambokönig halten, und ein Management, das die Leute nicht im Griff hat.«
So ein Mist, dachte sie, während sie beschleunigte, nur um bei Gelb eine Ampel zu schaffen, hinter der sie zehn Meter weiter sowieso wieder stand. Sie musste mit Manel Caballero sprechen, noch heute, gleich nach dem Treffen bei César. Alle wollten kommen: Amanda, Brais und der Volltrottel, wie Alfred Santos ihn genannt hatte. Nur Octavi konnte nicht, sie hatte es sich schon gedacht, und das beunruhigte sie; der kaufmännische Leiter konnte sich Gehör verschaffen, und im Allgemeinen war er auf ihrer Seite. Fehlen würden natürlich Sara und Gaspar. Gaspar …
Nie hätte sie gedacht, dass ausgerechnet Gaspar Ródenas in einen solchen Gewissenskonflikt geraten könnte. Sie hatte es eher bei Amanda befürchtet. Die war so jung, so unschuldig, und gleichzeitig gehörte sie zu dieser Sorte kreativer Menschen, die ihrer Meinung nach das Leben nicht gerade von der praktischen Seite angingen; die perfekte Kombination, um unter Gewissensnöten zu leiden. Aber nein: Amanda hatte nicht die kleinste Unruhe gezeigt. Vielleicht war jung und unschuldig an ihr nur das Aussehen, diese fast jungfräuliche Schönheit, makellos, strahlend … Wie Dorian Gray war Amanda offenbar immun gegen die Schlechtigkeiten der Welt.
Nein, Gaspar war es gewesen, der nach dem Sommer auf einmal in ihrem Büro stand, erdrückt von Schuldgefühlen. Gaspar, der pragmatische, ehrliche und zuverlässige Buchhalter; der Familienvater, der etwas zu verlieren hatte. Sílvia hatte all ihre Überzeugungskraft aufgeboten, sogar unterschwellig gedroht, und ohne mit der Wimper zu zucken sprang sie vom Tadel zum Lob: »Du bist für uns sehr wichtig, wir zählen auf dich, nicht dass du versagst, ich habe so großes Vertrauen in dich.« Ein
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