Der einzige Ausweg: Ein Barcelona-Krimi (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
sehr auf ihrer Leistung wie auf ihrem Nachnamen. Kein Geld der Welt konnte sie dafür entschädigen.
In jedem anderen Moment hätte sie mit ihrem Bruder gestritten, hätte gekämpft und ihre Interessen verteidigt, hätte ihm Dinge an den Kopf geworfen, die ihn vermeintlich oder tatsächlich kränkten. Aber am Freitag, nach dem Besuch des Inspektors, war sie so zufrieden mit sich, dass Víctors Nachricht ihr die Sprache verschlug. Sie saß nur da, stumm und leer wie ein vertrockneter Schädel. Und vierundzwanzig Stunden später, in ihrem Bett, spürte sie nichts als einen bitteren Geschmack im Mund. Selbst die Drohung, die sie zwei Tage zuvor am Telefon erhalten hatte, berührte sie nicht mehr. Es war absurd, aber an diesem Nachmittag schien nichts von Bedeutung zu sein.
Sie aß mit César zu Abend, wortlos und ohne Appetit. Erst als Emma kam, wurde die Stimmung ein wenig lockerer. Und ausnahmsweise ließ Sílvia sich mal verwöhnen, trank sogar einen heißen Kräutertee, den ihre Tochter extra für siezubereitete. Sie trank ihn im Bett, mit Emma an ihrer Seite, glücklich darüber, dass sie einmal die Rollen tauschten und die Tochter ihr nun die Hand auf die Stirn legte, ihr sagte, dass sie Fieber habe, und ihr einen Gutenachtkuss gab. Nachdem sie den halben Tag im Bett verbracht hatte, fürchtete sie, sie würde nicht einschlafen, doch kaum hatte Emma das Licht gelöscht und die Tür zugemacht, sank Sílvia in einen angenehmen, erholsamen Schlaf. Genau danach verlangte ihr erschöpfter Geist.
César blieb noch vor dem Fernseher sitzen. Er wäre nach Hause gefahren, wenn es nicht wieder angefangen hätte zu regnen oder wenn er nicht auf dem Sofa schläfrig geworden wäre. Oder wenn Emma heruntergekommen wäre, um ihm Gesellschaft zu leisten. Kurz vor zwölf ging er ins Bett. Sílvia schlief schon seit gut zwei Stunden, und er legte sich neben sie, an sie gedrückt. Sílvia rührte sich nicht. Er gab ihr einen Kuss in den Nacken, doch als er merkte, dass sie fest schlief, drehte er sich um und rutschte ein Stück zur Seite, auch wenn er genau wusste, dass es nicht viel half. Er war zu erregt, um zu schlafen, und hatte keine Lust, sich selbst zu befriedigen. Also schloss er nur die Augen und hoffte, das eine käme und das andere ginge vorbei. Aber der Schlaf kam nicht, und der Regen, der nun auf die Stadt niederprasselte, hielt ihn erst recht wach. César zeichnete sich nicht durch besondere Fantasie aus, auch war er wenig empfänglich für die Elemente, doch die Sorgen, die ihm durch den Kopf gingen, waren einfach zu viele: Er hatte sehr wohl Angst vor den Drohungen, glaubte, dass hinter Gaspars und Saras Tod sehr wohl noch etwas anderes steckte, eine dunkle Macht.
Hatten sie den Tod verdient? Vielleicht. Wenn auch nicht mehr als er oder Sílvia oder jeder der anderen. Der Begriff mochte lächerlich sein, aber ausnahmsweise traf er es genau: Was sie an jenem Abend im Frühjahr getan hatten, war echte Teamarbeit gewesen. Egal, wer als Erster zuschlug,wer später mit dem Plan kam, wer erschrockener war oder selbstsicherer. Sollte das, was mit Gaspar und Sara passiert war, das Werk des Schicksals sein, konnte es mit demselben Recht auch über sie kommen. Ein Donner besiegelte seine Schlussfolgerung.
Es war noch nicht ein Uhr, aber es kam ihm vor, als läge er seit Stunden im Bett. Er brauchte eine Zigarette, und diesmal hatte er sogar eine Schachtel dabei, in der Jacke, heimlich gekauft wie ein Schuljunge. Wenn niemand es riechen sollte, musste er sich ans Küchenfenster stellen. Er ging also hinunter, im Pyjama und barfuß, weil er immer wieder vergaß, sich Hausschuhe für sein zweites Zuhause zu kaufen. Ohne Licht zu machen, tastete er nach der Jacke in der Diele und nahm sich Schachtel und Feuerzeug. Dann ging er in die Küche und öffnete das Fenster einen Spalt. Draußen regnete es weiter. Tropfen, die im Licht einer nahen Straßenlaterne wie ein dichter Schleier aussahen, ein flüssiger Vorhang. Er zündete die Zigarette an und nahm, um sich an den Geschmack zu gewöhnen, einen ersten kurzen Zug.
Er hatte sie nicht gehört. Erst als die Tür des Kühlschranks aufging, drehte er sich um. Es war dunkel, aber im Schein des Lämpchens erkannte er Emma sofort. Er rauchte weiter, sagte nichts, wünschte sich, dass sie ging, und zugleich, dass sie blieb. Sie sagte kein Wort, kam nur näher. Und schnappte sich die Zigarette, nahm einen tiefen Zug und warf sie aus dem Fenster. Dann stieß sie den Rauch langsam aus
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