Der einzige Sieg
erstorben, und vermutlich saß jeder da und dachte an seine privaten Sorgen. Zumindest vermittelten sie einander diesen Eindruck.
Rune Jansson arbeitete erst seit einem Jahr ausschließlich an Mordfällen. Zuvor hatte er, wie er es aus heutiger Sicht sah, eine Art Gemischtwarenladen in Sachen Gewaltverbrechen geleitet, nämlich als Chef des Gewaltdezernats bei der Polizei in Norrköping. Doch jetzt waren Morde ein Full-Time-Job für ihn. Er war nicht sicher, ob das ein gutes System war, und als sie zu Hause zum letzten Mal darüber gesprochen hatten, hatte seine Frau an irgendeinem Sonnabend vor dem Fernseher darauf hingewiesen, in den USA hätten sie ja in jeder Stadt eine Art Mordkommission. Es lief gerade eine amerikanische Krimiserie.
Ja, so war es. Gewiß. Doch das lag daran, daß eine amerikanische Stadt in gewisser Hinsicht fast wie ganz Schweden war, zumindest die amerikanischen Städte, die in solchen Serien vorkamen. Norrköping wäre da so etwas wie ein Stadtteil gewesen. Wenn man Schweden also als eine einigermaßen große amerikanische Stadt ansah, war er jetzt also bei der Homicide division , oder wie das hieß. Insoweit war alles einigermaßen ähnlich. Der Unterschied bestand darin, daß es zehn Mal so viele Morde aufzuklären geben würde, wenn Schweden eine amerikanische Stadt wäre.
Nein, das System einer Spezialisierung auf Mordfälle war sicher nicht falsch. Es war vielmehr so, daß er die einzige Warnung, die er vor der Versetzung erhalten hatte, nicht ernst genommen hatte: Du wirst verdammt reisefreudig sein müssen. Du wirst nämlich ständig auf Achse sein. Hast du eine verständnisvolle Familie?
Es gab zwei Gründe dafür, daß er jetzt bei der Reichsmordkommission in Stockholm arbeitete. Der eine war, daß seine Frau da oben in Stockholm einen Job bekommen hatte und von dort stammte. Der zweite war, daß man ihn für den besten Ermittler in der Provinz gehalten hatte; als er sich zunächst vorsichtig um einen Job beim Gewaltdezernat in Stockholm bemüht hatte, hatte man seine Papiere sofort an die Reichsmordkommission weitergeleitet, weil dort ein Posten unbesetzt war. Jetzt also, so lächelte oder vielmehr grinste er still vor sich hin, hatte er einen Polizeidistrikt, der sich von Haparanda im Norden bis nach Ystad im Süden erstreckte; bis jetzt hatte er jedoch keinen der beiden Orte besucht.
Sie befanden sich auf der Heimreise von einer abgeschlossenen Ermittlung in Sundsvall. Der Mörder saß hinter Schloß und Riegel. Man hatte ihm die Tat nachgewiesen, und er hatte gestanden. Der Rest war Sache des Gerichts.
Sie hatten weniger als vier Tage gebraucht, um ihre Arbeit zu beenden. Im Grunde war dieser schnelle Erfolg ein Schulbeispiel dafür, wie es sein konnte. Kein böses Wort über Bauernpolizisten, wie sein älterer Kollege, dessen Stockholmer Herkunft sich nicht verleugnen ließ, gescherzt hatte. Gleichzeitig hatte er sich dafür entschuldigt (Rune Janssons Norrköpings-Dialekt war nicht zu überhören). Wie gesagt, kein böses Wort über Bauernpolizisten. In einer Stadt auf dem Land gibt es jedoch so verdammt viele Dinge, die einen blind machen. Das ist das eine. Das zweite ist, daß die Kollegen sich ja nicht dauernd mit Morden beschäftigen, wie wir es tun.
Ja, möglicherweise war es ein Schulbeispiel. Eine junge Frau in Sundsvall verschwindet spurlos. Ein verzweifelter Verlobter erstattet Vermißtenanzeige. Die Polizeiermittlung beginnt. Der Verlobte weint. Nirgends ein Motiv zu sehen, auch nicht das des unbekannten Täters, vor allem deshalb nicht, weil es keine Leiche gibt.
Damit wird die Angelegenheit zu einem Vermißtenfall, einem dieser mehr oder weniger unerklärlichen Fälle. In einem kleinen Land wie Schweden verschwinden jedes Jahr rund hundert Menschen. Dabei handelt es sich fast nie um Mord.
Vielleicht war dies der Grund dafür, daß die Polizei in Sundsvall so schnell das Interesse an dem Fall verlor. Aber ein halbes Jahr später nahm sich die Mutter des verzweifelten Verlobten das Leben.
Polizeibeamte, ob sie nun auf dem Land leben oder nicht, sind in hohem Maße Statistiker. Ein unerklärliches Verschwinden und ein Selbstmord sind in einer einzigen Familie eine Auffälligkeit zuviel. Auch das ist ein Schulbeispiel.
Aber was soll man mit einer verschimmelten Ermittlung anfangen, wenn die vermißte Person schon vor einem halben Jahr verschwunden ist? Jetzt ging der Verdacht immerhin schon mehr in Richtung Mord. Der Polizeidirektor in Sundsvall faßte
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