Der eiserne Gustav
wird schon besser mit dir werden, Gustäving!«
Da tut der Arzt die Tür auf und ruft: »Der Nächste!«
16
Der Arzt ist ein kleiner rundlicher Mann mit einem müden faltigen Gesicht.
»Na schnell!« sagt er. »Was ist denn? Der Junge? Natürlich der Junge! Sie sehen auch nicht wie das blühende Leben aus, junge Frau! Krankenschein? Schön! Nee, lassen Se man, den Jungen brauch ich mir nicht näher anzusehen: unterernährt. Wissen Sie, lieber Soldat, ich soll das ja nicht sagen: unterernährt; es ist mir wenigstens nahegelegt worden, es nicht grade meinen Patienten zu sagen. Aber ich sage es doch. Und warum? Weil ich die Maßnahmen der Regierung sabotieren will? I wo! Ich sage es einfach, weil ich zu müde zum Schwindeln bin …«
Er warf einen Blick auf den Jungen. Er schrieb, stempelte, schrieb.
»Ein halber Liter Milch täglich, dreißig Gramm Butterzulage, sagen wir hundertfünfzig Gramm Weizenbrot – es wird nicht alles bewilligt, aber was wird bewilligt, schreibe ich zweihundert Gramm Weizenbrot …
Gestern«, sagte er und schrieb und stempelte immer weiter, »waren es hundertachtzig Patienten, heute sind es morgens um zehn schon über dreißig … nur in der Sprechstunde … Dann die Hausbesuche … Und immerzu schreib ich … Ich behandle doch keine Kranken? Ich bin eine Maschine, die Zusatzlebensmittel beantragt und Rezepte schreibt … Und ich war mal bei Robert Koch Assistent! – Aber davon verstehen Sie nichts, es interessiert Sie auch nicht, Sie haben Ihre eigenen Sorgen …«
Immer weiter schreibend, stempelnd: »Brechen, sagen Sie? Aber das ist doch sehr vernünftig von dem Jungen! Wenn der Mensch von was zu viel kriegt, bricht er’s wieder raus. Ausgezeichnet, wozu soll er den ganzen Kotz verdauen? Er würde ja daran krepieren! Spiegeleier mit Speck, Bratkartoffeln mit Fett – und so ein Mägelchen, ein Wassersuppenmägelchen! Kotzt er! Was denken Sie, Soldat, was die Welt noch über diesen Krieg das Kotzen kriegen wird!«
Er fuhr zusammen: »Ach so, entschuldigen Sie, das durfte ich nicht sagen. Ich darf vieles nicht sagen, was ich sage. Ich rede auch nur aus reiner Müdigkeit. Ich rede immer weiter. Ich höre schon gar nicht mehr zu, was ich rede. Letzte Nacht habe ich anderthalb Stunde Schlaf gekriegt – das heißt, richtiger Schlaf war’s auch nicht. Mein letzter Sohn ist jetzt auch an der Front – dreie sind schon hinüber. Na ja, das interessiert Sie nicht, mich interessiert es übrigens fast auch nicht mehr … Hier sind Ihre Wische! Gehen Sie raus mit dem Jungen, warten Sie draußen, ich möchte mit der jungen Frau noch ein paar Worte unter vier Augen reden …«
»Ich habe aber keinen Krankenschein für meine Frau …«, sagte Otto zögernd.
»Krankenschein? Wer redet von Krankenschein?! Ich habe so viel Krankenscheine, ich kann die Wohnung damit tapezieren. Nein, gehen Sie – was ich mit der Frau zu redenhabe, sind Frauensachen. Davon versteht ihr Männer nichts! Raus mit Ihnen, Soldat!«
Er schob Otto aus dem Zimmer.
Es dauerte ziemlich lange. Er stand wieder in dem Wartezimmer unter all den Frauen, der Junge war nur schwer in Ruhe zu halten.
Dann kam Tutti wieder, endlich kam sie wieder. Der Arzt sagte eilig: »Der Nächste, bitte!«
Sie hängte sich in seinen Arm ein, sie war so zärtlich, als sei sie sehr glücklich.
»Was hat er denn gesagt, Tutti?«
»Ach, nichts Besonderes. Daß ich mich sehr schonen soll und daß ich mich ruhig einmal ein paar Wochen ins Krankenhaus legen soll, nur zum Erholen, verstehst du, nichts Ernstliches.«
»Und sonst …?«
»Sonst …?«
»Darum schickt er mich doch nicht raus!«
»Ach Gott, Otto! Er hat mich untersucht, die Brust und den Rücken, weißt du. Er hat wohl gedacht, es wäre mir vor dir peinlich, wegen des Rückens. Und es wäre mir auch peinlich gewesen, Otto, das verstehst du doch?«
»Und sonst nichts?«
Sie lachte. »Aber was soll denn sonst sein, Otto? Nein, sonst wirklich nichts!«
»Wirklich nicht?«
»Aber Otto …!«
»Dann ist’s ja gut.«
Er schwieg. Er hatte das Gefühl, daß sie ihm nicht alles gesagt hatte. Es war ein ganz sicheres Gefühl. Er hatte den Gedanken, hinter ihrem Rücken noch einmal zum Arzt zu gehen. Aber er ließ es. Tutti würde ihm schließlich schon die Wahrheit sagen, sie hatte ihn noch nie belogen.
Und er hatte recht. Er erfuhr die Wahrheit noch – sie belog ihn nicht.
17
Sie waren viel zu früh an die Bahn gegangen, unnötig früh, fand Otto. Aber Gertrud hatte so
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