Der eiserne Gustav
haben – der Polype hat nischt jesagt von Peitsche … Es sollte mir doch wundern!
5
Erich mußte noch viel trinken, ehe er sich wirklich frei fühlte. Der alte, bärtige Mann, der wie aus dem Grabe auferstanden an seinem Tisch gesessen hatte – er war ja immer noch in Erichs Leben gewesen, er wußte erst jetzt, wie sehr. Er hatte ihn nicht besucht, er war ihm aus dem Wege gegangen – aber er war doch dagewesen; in seiner Dahlemer Villa, im Büro der Innenstadt zwischen seinen Angestellten hatte der Erwachsene, der rasche, gewissenlose Geschäftemacher die Hand des alten Droschkenkutschers gefürchtet, wie ein kleines Kind hatte der große Sohn den Vater gefürchtet.
Erich lachte erleichtert auf, wieder trank er.
Sein väterlicher Freund, der Anwalt, fragte über den lärmenden Tisch fort: »Nun, Erich, was ist dir …?«
»Nichts!« lachte Erich und trank wieder. »Ich bin nur vergnügt.«
Der Dunkle nickte. »Und was war mit dem Kutscher?«
Erich beugte sich über den Tisch, mit dem Kopf deutete er auf den leer gewordenen Stuhl und flüsterte: »Das war mein Vater …«
Der Anwalt zog mit einer Geste höflichen Erstaunens die dunklen, buschigen Augenbrauen hoch. »Interessant«, sagte er mit einem dünnen Lächeln. »Und …?«
»Habe ihn geschlagen!« stieß Erich hervor. »Sonst werden die Kinder von ihren Eltern geschlagen, diesmal habe ich …« Er hielt inne. Er schwächte es ab: »Bildlich natürlich.«
»Ich verstehe«, sagte der Freund und nickte langsam. »Ich verstehe dich vollkommen, Erich. Aber dir ist nichts Außergewöhnlichesgeglückt. Es gibt ein altes Sprichwort, daß die Kinder, solange sie klein sind, auf den Schoß ihrer Mütter treten, groß geworden aber auf ihr Herz … Und Väter sind ja etwas Ähnliches wie Mütter, nicht wahr?«
Wieder nickte er. Durch den Nebel von Zigarettenrauch, der draußen vor den Augen war, und durch den Nebel von Alkohol, der drinnen hinter den Augen war, schien das nickende, lächelnde Gesicht des Freundes groß und schrecklich auf Erich zuzukommen …
Aber dann geschah gar nichts Schreckliches, sondern der Anwalt sagte nur: »Wenn du also wider Erwarten Gewissensbisse haben solltest, Erich, du hast nur getan, was von hundert Kindern hundert tun … Dein Wohl!«
Er hob grüßend den Sektkelch. Erich grüßte zurück, und beide tranken. Dann schien die Nacht sich aufzulösen in einen Wirbel von Rausch, Mädchen, schallenden Gelächtern … Noch nie, schien es Erich, war er so glücklich und trunken mitgewirbelt im Taumel aller …
Sie jubelten, sie lachten, sie kamen in Gang – oh, wie kamen sie in Gang, in dieser Nacht der Ruhrbesetzung! Sie hakten sich ineinander ein, es gab keine Musik in diesem Dreckskeller, aber sie machten sich selber ihre Musik. Schaukelnd, schunkelnd saßen sie um den Tisch, und schallend sangen sie all die schönen, witzigen, frech-freien Lieder ihrer schönen Zeit: »Wir versaufen unser Oma ihr klein Häuschen …« – »Wer hat denn den Käse zum Bahnhof gerollt …« – »Wenn du nicht kannst, laß mich mal …« – »Ausgerechnet Bananen!«
»Was will der dicke Wirt, der Rotwestige, der Grobian, der eiserne Gustav?! Für uns ist keiner eisern, wir zerdrücken euch mit der bloßen Faust! – Wir sollen nicht so laut sein, sonst hört uns noch die Polizei …? Soll sie uns doch hören, wir sind über aller Polizei, väterlicher und staatlicher, wir sind gewesene, gegenwärtige, zukünftige Reichstagsabgeordnete des deutschen Volkes, einig in seinen Stämmen!«
»Ich soll den Mund halten, Herr Doktor? Natürlich halteich den Mund! Ich mach Ihnen doch keine Schwierigkeiten. Natürlich sind wir keine Reichstagsabgeordneten! Sehe ich aus wie ein Abgeordneter? Noch habe ich keinen Bauch – oder fast keinen! Ich bin ein Schieber …«
Und trunken stimmte Erich an: »Ich bin ein Schieber, kennt ihr meine Farben? Die Fahne weht mir schwarzrotgold voran! – Wenn mir die Waren alle auch verdarben – fünfzig Prozent verdien ich immer dran!«
Sie haben ihn heruntergezogen von seinem Stuhl, der Kellner steht mit Mokka da, der Mann mit dem Monokel hält die Hand über Erichs Mund … »Seien Sie jetzt vernünftig, Hackendahl! Was ist denn bloß los mit Ihnen? So viel haben Sie doch gar nicht getrunken!«
Ja, was war los mit ihm? Es war nicht der Alkoholrausch, es war ein Siegesrausch. Er hatte sich selbst, seinem Vater, aller Welt bewiesen, daß man schlecht sein mußte, um zu siegen. Alles, was sie ihm früher erzählt
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