Der eiserne Gustav
hat er wieder Zeit, er sieht also zu ihr hinüber und ruft: »Sie da!«
Sie schreckt zusammen, springt auf und geht zu ihm: »Bitte schön?«
»Haben Sie denn auch Zeit zu warten?« fragt er.
»Wird es sehr lange dauern?« fragt sie.
Er scheint scharf nachzudenken. Dann sagt er: »Bis übermorgen früh!« Und ehe sie noch etwas antworten kann: »Herr Hackendahl hat sich nämlich drei Tage Urlaub genommen.« Schließlich, um sie ganz zu zerschmettern: »Das müßten Sie doch eigentlich wissen, wenn er bei Ihnen wohnt, was?«
Sie ist fest davon überzeugt, daß sie schikaniert wird, er will bloß die Verwandte in Familiensachen abwimmeln, die der Bank gehörige Arbeitszeit unversehrt erhalten. Oder es liegt ein Irrtum vor …
Aber der Portier, der ihr ja nun seine Macht und Herrlichkeit genugsam bewiesen hat, wird plötzlich menschlich, als er ihre Aufregung sieht. Er holt die Urlaubsliste hervor, und da sieht sie denn, daß Heinz Hackendahl tatsächlich bereits gestern in Urlaub war, heute in Urlaub ist, morgen in Urlaub sein wird – und er hat ihr nichts davon gesagt!
Sie hat sich von dem plötzlich sehr interessierten Portier losgemacht und ist nach Haus gefahren. Sie hat es so eilig, sie ist überzeugt, die Aufklärung sitzt zu Haus! Aber zu Hause ist nichts …!
Später sind dann die Kinder gekommen, sie haben gegessenund haben ihre Erlebnisse erzählt, und trotzdem sie immer nur mit Ja und Nein und So geantwortet hat, haben sie erst gar nicht gemerkt, daß die Mutter heute nicht da war für sie. Bis sie schließlich gereizt rief: »Seid doch endlich still und laßt mich zufrieden! Tut was!«
Nun saß sie ungestört und konnte wieder grübeln. Die große Freude vom Morgen war fort. Schon als sie zu Heinz ging, war sie nicht mehr heil und ganz, diese Freude; sie hatte daran gedacht, daß sie sich von dem Schwager, dem einzigen Freunde, würde trennen müssen.
Aber sie war ja schon getrennt gewesen von ihm, er war nicht mehr ihr Freund gewesen, sie hat es bloß nicht gewußt! Sie hatte geglaubt, sie hätten alles gemeinsam, sie wenigstens hatte ihm nichts verborgen. Aber bei ihm war es eben doch anders gewesen, er hatte sie hintergangen. Wenn sie nicht zufällig zur Bank gekommen wäre – vielleicht war so etwas schon öfter geschehen, und sie hatte es bloß nicht gemerkt!
Der Gedanke an die Erbschaft kehrt zurück – und plötzlich begrüßt sie ihn als Erlösung. Jawohl, das heißt Trennung von Heinz, aber es ist gut, daß es auf so selbstverständlichem Wege zur Trennung kommt! Sie könnte jetzt nie wieder mit ihm zusammen leben – wenn das Mißtrauen erst einmal aufgeweckt ist, schläft es nie wieder ein!
Nein, damit ist es vorbei …
Sie versucht, sich das Leben vorzustellen auf dem Inselhof, das Leben mit Kindern, Tieren, Wind, Wasser … Aber es ist so leer … Sie ist so gewöhnt an ihn, etwas Helles, Verläßliches … das er erst bei ihr geworden war. Damals, im Sommer 19, als er zu ihr zog, war er noch gehetzt gewesen, unruhig, ohne Ziel …
Dann war er fester geworden, er hatte eine Aufgabe gefunden: gemeinsam mit ihr die Kinder satt zu bekommen, mit dem dürftigsten, oft wertlos gewordenen Einkommen. Geduldige Arbeit, Tag für Tag, Arbeit ohne Ruhm und Dank, um der Arbeit willen allein, vielleicht um der Zukunft willen, die nicht er, die nicht sie, die keiner kannte …
Sie erinnerte sich nicht, daß er je mutlos geworden wäre, je nachgelassen hätte, an kein Mißlingen erinnerte sie sich …
Ach, Heinz! dachte sie …
Und plötzlich überkam sie wie ein dichter, alles einhüllender Nebel die Trauer, jene Trauer, die jeder Mensch immer von neuem erfährt, die Trauer, daß ein Mensch sich von uns löst. Unwiederbringlich rinnt das Leben durch unsere Hände, was wir eben noch hielten, schon ist es vorüber.
Unwiederbringlich!
»Mutter weint«, flüstern die Kinder, und der kleine Otto ist diesmal der Mutigere und ist eher bei ihr. Sie hält die Kinder und drückt sie an sich. Das Leben fließt, verrinnt. Auch ihr werdet euch einmal von mir trennen und fort sein – unwiederbringlich!
13
Sie sieht nicht hoch, als er hereinkommt. Er pfeift vergnügt vor sich hin, schon draußen auf dem Flur. Die Kinder stürzen zu ihm; sie ist froh, daß sie mit seinem Essen zu tun hat, daß sie nichts mit ihm reden muß … Genau die Zeit, zu der er sonst von der Bank kam, abgepaßt auf fünf Minuten genau; wie quälend dieses Leben manchmal ist, man verliert allen Mut, sich aufzulehnen, erträgt
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