Der eiserne Gustav
Schlüssel im Schloß …
Mit einem Satz ist er an der Tür, aber wenn man den Schlüssel schon hat schließen hören, ist es natürlich zu spät, auf die Klinke zu drücken.
»Irma!« ruft Heinz flehentlich das mit Ansichtspostkarten vollgehängte Türglas an. »Irma! Mach doch auf! Ich will dir ja bloß erklären …« Kaum hat er nach fünf Jahren Irma zum ersten Male wiedergesehen, hat es schon ein neues Mißverständnis gegeben!
»Irma!« fleht er noch einmal und starrt wütend die Kitschpostkarten an.
Eine weiße Hand schiebt die Karten auseinander, sie hängt ein Schild zwischen sie. Es ist ein gedrucktes Schild, wie es der Laden für die Bedürfnisse seiner Kundschaft vorrätig hält. Die Hand hängt das Schild hin, rückt es zurecht, verschwindet. Heinz liest das Schild:
» Heute
wegen einer Familienfeier geschlossen«
Er starrt blöde. Dann überkommt ihn das Lächerliche der Situation. Er hier draußen, sie drinnen im Laden, wahrscheinlich durch irgendeine Lücke nach ihm spähend und sich köstlich über sein dämliches Gesicht amüsierend.
Er dreht sich um, faßt die Peitsche, knallt herausfordernd dreimal hintereinander und geht schnell, ohne sich umzusehen, zur Bahn.
Gottlob, denkt er, daß Vater mir die Peitsche gegeben hat. Wenn ich die Peitsche nicht gehabt hätte! Na, warte nur …!
12
Eine tiefe, eine unnatürliche, eine fast beängstigende Stille herrscht in der Küche bei Gertrud Hackendahl, geborener Gudde. Fast ohne sich zu bewegen, saß der elfährige Gustav unter der Lampe und las in seinem Schullesebuch. Ab und an warf er einen raschen Blick zur Mutter, die nähend ihm gegenüber am Tisch saß. Und sofort kehrte sein Blick in das Buch zurück. Er las weiter, nur bemüht, nicht die Aufmerksamkeit der Mutter auf sich zu ziehen …
Und nicht anders tat es der sechsjährige Otto. Wie oft, wenn er seine bunten Bauklötzer auf der Diele vor dem Herd neu geordnet hatte, war er im Begriff zu rufen: »Mutter! Kiek, die schöne Puffbahn!« Oder: »Mutter, hat ’ne Zicke auch ’nen Schwanz?« – Aber selbst er, der noch so leicht vergaß, verschluckte das Wort schon im Entstehen, sah zur Mutter hin und schwieg.
An anderen Tagen hätte Gertrud Hackendahl solch ängstliches Schweigen nie geduldet. Bestimmt war sie für Parieren – wer in solcher Mißgestalt unter Kindern lebt, muß von Anfang an darauf sehen, daß Unordnung nicht einreißt, sonst ist es mit seiner Autorität für immer vorbei. Aber es ist ein großer Unterschied zwischen Gehorchen und Kriechen.An anderen Tagen hätte Gertrud dieses vorsichtige Schielen, diese unnatürliche Geräuschlosigkeit der Kinder sofort gemerkt, und sie hätte ihr nicht gefallen. Heute aber …
Heute aber dachte sie überhaupt nicht an die Kinder. Sie saß da und nähte, eine tiefe Falte zwischen den Augenbrauen, die dünnen Lippen fest aufeinandergepreßt. Sie war ganz allein mit sich, so einsam hatte sie sich nie wieder gefühlt, seit die Nachricht von Ottos Tode sie erreicht hatte. Nein, heute tat es vielleicht noch weher, weil sie so häßlich getäuscht worden war! Otto hatte sie nie getäuscht. Otto war immer offen und ehrlich gewesen, niemals hinterlistig!
Sie näht los auf den Stoff, als nähe sie mit glühender Nadel. Sie versucht, sich wieder die Freude zurückzurufen, die sie empfand, als der Postbote ihr heute morgen den Einschreibebrief brachte, den Brief mit der Kunde, daß sie geerbt hatte, daß sie Hausbesitzerin geworden war auf der Heimatinsel Hiddensee. Haus und Boot und Land und Stall daheim, am Meere, wo die Luft nie stille steht wie hier in der Öde der Häuserwirrnis, wo sie bei jedem Atemzug kräftig nach salziger Weite schmeckt.
Ein Traum über Erwarten in Erfüllung gegangen, eine Zufallserbschaft, von irgendeinem alten Onkel, den sie kaum je gesehen. »Mangels letztwilliger Verfügung des Erblassers als nächste bekannte Anerbin …«
Traum Wahrheit geworden – und eine Fülle von Gesichten, von neuen Träumen auf sie einstürmend: wann sie fahren wird, erst einmal, um sich alles anzusehen. Wie sie es einrichten wird mit dem Boot, mit dem Netzanteil. Wem sie das Land verpachten wird – natürlich nur bis Gustav groß genug ist, alles selbst in die Hand zu nehmen! Wie sie mit den Leuten schnacken wird – ach, wie hat sie sich seit Jahren danach gesehnt, das heimatliche Platt zu sprechen! Sie hat nie das Berlinische gemocht – noch im Munde des Mannes noch in der eigenen Kinder Mund ist es eine fremde Sprache
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