Der eiserne Gustav
… Immer im Schritt durch diese Straßen, so langsam, wie der Gaul nur gehen wollte … Und dabei Ausschau halten …
Wie die Zeiten sich geändert haben, wie wir uns geändert haben mit den Zeiten! Eisern? Ach was, eisern, ja, im Ertragen, eisern im Durchhalten, eisern im Lebenswillen! Eisern in der Entschlossenheit, Muttern das Geld nach Haus zu bringen, das tägliche, jämmerliche Geld, fünf Mark, wenn es ein guter Tag war, aber auch mit Zwei fuffzig läßt es sich auskommen …!
Da gehen die Mädchen, sie stehen an den Ecken, vereinzelt, manchmal auch zwei, drei. Es sind nicht die großen Nutten, die auf der Tauentzien und dem Kurfürstendamm herumlaufen, die würden sich auch schönstens für eine Pferdedroschke bedanken …! Es sind die kleinen Mädchen, bestimmt nicht mehr hübsch, bestimmt nicht mehr frisch, mit Webefehlern, wie man so sagt, die hier auf der Lauer liegen, die Schüchternen abzufangen – die kleinen Mädchen, auf der Jagd nach Angetrunkenen, nach den sehr Betrunkenen, die die Luft gerade wieder so weit ernüchtert hat, daß sie verstehen, was so ein Mädchen von ihnen will, oder nach den ein bißchen Betrunkenen, die von der frischen Luft benommen sind – ja, nach denen wird hier gejagt …
Und wenn sie dann zur Strecke gebracht sind, dann ist es gut, wenn solch ein Wagen zur Hand ist. Es ist lustig, malwieder in einer Pferdedroschke zu fahren, gerade in seiner jetzigen Stimmung gefällt es dem Kavalier! Und es ist gut für die Mädchen, wenn der Herr rasch ans Ziel kommt. Betrunkene überlegen sich alles sehr plötzlich, gleich fällt ihnen wieder etwas anderes ein!
Aber der alte Mann auf dem Bock sorgt dafür, daß es schnell geht. Und er kennt alle Absteigequartiere, alle hoch– herrschaftlichen Pensionen mit Nachtglocken, alle Stundenhotels der Gegend. Er ist auch nicht so wie ein Chauffeur, der immer Angst hat, sein Wagen wird ihm geklaut. Er hilft den Mädchen, klingelt für sie, stützt den Herrn die Treppen hinauf – oh, der alte Droschkenkutscher ist in Ordnung, er kennt Berlin bei Tag und bei Nacht, wie es weint und wie es lacht; er zuckt nicht, er ist eisern …
»Laß man, Justav!« sagen die Mädchen zu ihm, wenn der Kavalier durchaus die Droschke nicht bezahlen will. Wieso denn?! Er habe keine bestellt, und überhaupt, was er hier eigentlich solle …? – »Laß man, Justav, ick bring det morjen mit dir in Ordnung …«
Ja, das sind seine Nachtfuhren, derart ist das Geld, das er Muttern nach Haus bringt! Aber davon sagt er ihr nichts.
Hat er etwa geglaubt, dies bliebe ihm erspart …? Ihm blieb nichts erspart … Es gefiel ihm vielleicht nicht, es gefiel ihm ganz bestimmt nicht, betrunkene Kavaliere ins Bett zu schaffen, und in solch ein Bett! Aber wenn er leben wollte, wenn er Mutter Geld bringen wollte, so hatte er keine Wahl. Er hatte nur die Wahl zwischen Leben und Sterben. Das Sterben stand ihm völlig frei, zur Zeit herrschte eine gewisse Sterbefreudigkeit in Berlin, über die es auch eine Statistik gab. Selbstmordstatistik – hauptsächlich waren die ganz jungen und die ganz alten Leute von dieser Neigung erfaßt …
Aber sterben wollte der eiserne Gustav nun einmal nicht, er wollte vor allem nicht, daß Mutter starb. So mußte er sein Brot nehmen, wo er es fand. Es war kein gutes Brot, es war auch kein sauberes Brot – aber es war Brot.
Nein, er dachte nicht daran, sich zu beklagen, er klagteüberhaupt nicht. Er war jetzt Mitte der Sechzig, aber ganz alt war er noch nicht. Wie fast alle Menschen dieser Zeit hatte er eine vage Hoffnung, sie zu überstehen: Einmal mußte ja doch etwas anderes kommen, etwas Besseres. Es war unmöglich, daß es immer nur bergab ging.
Nein, wenn ihn da auf seinen nächtlichen Fahrten durch die grauen Straßen ein Gedanke plagte, so war es der an Eva … Eva hätte er nicht gerne hier wiedergesehen, so wiedergesehen, er auf dem Bock, sie mit einem Mann im Wagen … Eva in solch ein Absteigehotel zu fahren, das wäre wirklich für ihn ein Zusammenbruch gewesen, die Tochter und der Vater … Solange er nur allein um die Art dieser Fuhren wußte, ertrug er es. Er hatte es allein mit sich auszumachen, was er sich zumuten durfte. Aber ein anderer, und gar einer aus der Familie, und nun sogar ausgerechnet sie, die er wegen solcher Dinge aus dem Hause gejagt hatte – unmöglich! Der Gedanke an Eva, der war es, der ihn immer plagte. Wegen Eva hätte er diese Fuhren gern aufgegeben … Aber da war nun wieder Mutter …
Er hatte Eva
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