Der eiserne Gustav
anders wird, es ist überall und zu allen Zeiten dasselbe. So verlangte die Greisin jetzt ihr Bett, und als sie vor der Klinik hielten, konnten ihr die Träger nicht schnell genug mit der Bahre kommen, und der Kutscher und das Pferd und der Zucker waren völlig vergessen. Sie verschwand in der Tür, das leise weinende Mädchen Malvine hinter sich, und lange mußte Gustav Hackendahl warten, bis eine Schwester kam, die Decken und Kissen und Sachen zu holen.
»Wegen des Fahrgeldes sollen Sie auf das Büro zu der Frau Oberin kommen, Kutscher«, sagte die Schwester.
Brummend stieg der alte Hackendahl vom Bock, strängte den Rappen ab und hing ihm den Futtersack vor. Dann ging er auf das Büro, und als sich dort die Frau Oberin von ihrem Ausguck am Fenster umdrehte, da war dieses große, stattliche, sehr energisch aussehende Frauenzimmer seine Tochter Sophie.
»Na, Sophie …«, sagte er. »Det is ja komisch … Muß ick ’ne halbtote Frau fahren, um dir mal wieder zu sehen. Wie sich det so jibt zwischen Eltern und Kindern …«
»Ich habe dich draußen halten gesehen, Vater …«, sagte sie kühl. »Darum habe ich dich reinrufen lassen. Ich hätte dir das Geld auch rausschicken können. – Was macht Mutter?«
»Ja, so biste, Sophie. So biste immer jewesen. Kühl bis ans Herz hinan …«
»Ich hab mich nicht gemacht, Vater …«
»Soll det uff mir jehn?«
»Wir wollen nicht streiten, Vater. Was macht Mutter?«
»Wat soll se machen? In diese Zeiten! Die Hauptsache, det wir satt zu essen haben …«
»Es geht nicht gut? Nein, ich sehe es an der Droschke und an deinem Pferd. Und an dir sehe ich es auch, Vater …«
»Det brauchste mir nich zu sagen, ick tu, wat ick kann. Jib mir mein Fahrgeld, vier Mark fuffzig macht et. Et kann mir ja schlecht jehn, darum ha’ick nich nötig, mir von meine eijene Tochter dumm kommen zu lassen. Ick brauche dir nich, aber du hast mir mal jebraucht …«
Sie sah ihn nachdenklich mit ihren kühlen Augen an.
»Ich habe dich gebraucht, Vater, wie jedes Kind seinen Vater braucht, nicht mehr. – Aber davon wollen wir nicht reden, vergangen ist vergangen …«
»Det sagst du! Ick seh euch Kinder immer noch, wie ihr klein wart. Aber det wollt ihr nich mehr wissen, ihr wollt immer bloß jroß jewesen sind.«
»Ich weiß noch sehr gut, wie ich klein war, manchmal träume ich davon. Keine guten Träume. Erst seit ich auf eigenen Füßen stehe, bin ich zufriedener geworden. Ganz zufrieden werde ich nie – es ist, als fehlte mir was, Vater.«
»Ick bin nich schlecht zu dir jewesen, Sophie. Ick bin jewesen, wie ick konnte.«
»Ja, und ich, wie ich konnte. Also, Vater«, sagte sie, »ich habe mich jetzt durchgefressen. Ich bin Oberin hier in dieser Klinik und habe einen Anteil daran und verdiene nicht schlecht, und wenn du willst, kann ich etwas tun für euch, für Mutter …«
»Ick will keen Jeld von dir.«
»Ich würde dir auch keins geben, mit Geld hilft man keinem Menschen. Aber was meinst du, wenn du mit Mutter hierherziehen würdest? Unten ist eine ganz nette kleine Wohnung, und du könntest die Zentralheizung besorgen und den Warmwasserkessel …«
»Nee, Sophie, ick bin Droschkenkutscher und ick bleibeDroschkenkutscher. Portier werd ick nich uff meine ollen Tage …«
»Denk doch auch an Mutter …«
»Wenn ick zufrieden bin, is et Mutter recht. Det bißken Happenpappen hab ick noch immer jeschafft.«
Sie war nicht die Spur gekränkt, sie sah ihn nur nachdenklich an. Er, der Vater, war vielleicht trotzig und verlegen, aber sie, die Tochter, war ganz kühl, kalt …
Und doch war sie vielleicht nicht völlig kalt. Etwas plagte sie. Es war nicht Liebe, nein, bei weitem nicht, es war etwas wie Pflicht oder Ehre, was sie plagte, wenn sie da den alten Mann vor sich sah, in seinem abgeschabten, fleckigen, vielfach geflickten Kutschermantel, dem bärtigen Gesicht, das wie gegerbt aussah …
Wenn sie ihn nicht vor Augen hatte, wenn sie nichts von ihm wußte, so mußte es sie nicht kümmern … Sie konnte sich eine Privatklinik aufbauen, auf der Höhe der Zeit, eine angenehme Arbeitsstätte, ein sicheres Auskommen und vor allem ein Geltungsbereich, eine Welt, in der sie zu befehlen hatte: Pflegern, Schwestern und Kranken, sie, der so lange immer nur befohlen worden war …
Da stand er nun vor ihr, er, der ihr am meisten, am härtesten, am folgeschwersten befohlen hatte – nein, es war vielleicht doch nicht nur Schuld-und Pflichtgefühl!
Sondern es war in ihr, sie erkannte es,
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