Der eiserne Gustav
nächsten Tag fand sie dann wirklich statt, die Fuhre der Dreiundneunzigjährigen, die erste Ausfahrt nach einundzwanzig Jahren …
Aus dem Portal des Hauses Neue Ansbacher 17 kam ein ungeheurer Lehnstuhl, ein Polsterwerk aus Wölbungen und Buckeln und mit Stützen für die Arme und mit Stützen für den Kopf, bespannt mit einem völlig verschossenen Samt, auf dem Vögel waren: Kolibris und ein großer gelbblauer Ara.
Zwei richtige Ziehleute mit blauen Blusen trugen den Sessel in einem Gurt, und ein dritter Ziehmann ging hinterher und hielt die Lehne … Und hinter dem dritten Ziehmann ging der Portier und trug Decken und Kissen, und hinter dem Portier ging das alte Dienstmädchen und hatte ein Köfferchen in der Hand – und all diese Leute hatten halb feierliche, halb vergnügte Gesichter …
In dem Sessel aber saß ein Frauchen, so ein ganz kleines Frauchen, nur noch eine Handvoll Mensch, mit Kinderhändchen und schneeweißen dünnen Haaren. Auf den Haaren lag ein glatt anliegendes Häubchen aus schwarzen Schmelzperlen. Das Gesicht des Frauchens war ganz klein, mit tausend Falten und Fältchen gingen die Lippen in den Mund hinein, aber die Augen sahen noch recht frisch in die Welt.
Jetzt sahen sie Gustav Hackendahl an, diese Augen, und eine ganz helle, hohe Stimme sagte zufrieden: »Ja, das ist noch ein richtiger Berliner Droschkenkutscher. Das hast du gut gemacht, Malvine. – Wie heißen Sie denn, lieber Mann?«
»Gustav Hackendahl«, sagte der alte Hackendahl und grinste über sein ganzes Gesicht. Er kam sich endlich wieder einmal wie ein ganz junger Mensch vor. »Aber die Leute sagen uff mir bloß eiserner Justav.«
»Eiserner Gustav! Hast du das gehört, Malvine? Ja, das ist noch das gute alte Berlin. – Aber füttern Sie Ihr Pferd denn auch gut, lieber Mann? Es sieht so mager aus.«
Dieser Greisin wollte der eiserne Gustav doch lieber nichts von seinen Nahrungssorgen erzählen, sondern er versicherte, der Rappe bekomme alle Tage seine zwölf Pfund Hafer, bloß, er verdaue so schlecht, weil er so schlecht kaue: Er habe nämlich stumpfe Zähne …
»Ja, die Zähne! Die Zähne! Und die Verdauung – wenn man alt wird. Früher! Ja früher!« Aber die alte Dame besann sich gleich wieder. »Also denn, Malvine, denn gib dem Pferd seinen Zucker …«
Und siehe, es war alles vorbedacht, Malvine hatte Zucker in der Schürzentasche. »Drei Stück für jetzt, und noch mal drei, wenn du Pferd uns brav gezogen hast.«
Und nun wurde die alte Dame in die Droschke geladen, mit Kissen und Decken fest verankert, und dann stieg Malvine dazu …
»Los, Kutscher. Aber langsam, denn ich will auch was sehen, und ich kann die alte Raserei überhaupt nicht leiden …«
Los ging der Rappe, Schritt vor Schritt, und immer wenn ein Auto vorüberglitt, rief die alte Dame: »O pfui!« Und bei jedem Laden sah sie heraus und kramte in ihrer Erinnerung und rief: »Hier hat doch früher ein Zuckerbäcker gewohnt, Sie müssen’s doch noch wissen, Kutscher! Dietrich, richtig, Dietrich hieß er.«
Aber sie fuhr mit einem Schrei zurück, denn ein großer, zweistöckiger Autobus donnerte vorüber – und sie fragte erst nach einer Weile ängstlich, ob es denn nicht mehr die netten Pferdeomnibusse gebe? »Gar keine mehr? Nicht einen einzigen mehr?«
Bald verwirrte sie sich, und sie wußte nicht mehr, durch welche Straßen sie fuhren, und sie fragte, ob er denn nicht falsch fahre, hier seien doch früher Anlagen gewesen und Wasser. »Das Wasser kann doch nicht auch weg sein! Ich sehe doch noch die Kinder, wie sie darin plantschten!«
Ach, die Kinder, die die alte Dame plantschend vor Augen hatte, waren wohl schon längst tot, und auch deren Kinder waren wiederum große Menschen geworden und plantschtennicht mehr, sondern hatten Sorgen und ließen sich auch schon in Krankenhäuser fahren. Die schöne Fahrt in der alten Droschke, auf die sich die Greisin so gefreut hatte, war ihr schon nach zehn Minuten zuviel. In ihren Zimmern hatte sie glauben können, das alte Berlin lebe noch. Nun war alles anders geworden, anders die Straßen, die Häuser, die Läden. Andere Menschen liefen herum, ganz andere – und plötzlich kam ihr wohl zum Bewußtsein, wie alt sie war, wie uralt. Daß ihre ganze Welt gestorben und längst vergangen war und daß sie, sie allein noch lebte – schlimm allein.
Da schloß sie die Augen und bat, daß er rascher führe, bat nur um ein Bett … schnell um ein Bett … Denn ein Bett wird nicht anders, wie eine Stadt
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