Der eiserne Gustav
soll ich tun?! dachte er. Wenn ich von mir aus die Stellung aufgebe, habe ich nicht einmal Anspruch auf Stempelgeld! – Und zur Polizei laufen? Ich habe nicht einen Beweis!
Sie hatten fast keine Reserve, kaum hundert Mark. Was soll ich nur tun?! dachte er wieder. Ich muß die Stellung aufgeben! Ich mache nichts Dreckiges mit. Aber Irma, Irma wird mir Vorwürfe machen! Und dann stehen wir ohne alles da – und das Kind!
Das ging durch ihn, aber es haftete nicht. Zukunftssorgen, jawohl – aber drängender waren die Gegenwartssorgen. Mit finsterem Gesicht saß er jetzt an seinem Pult, es war natürlich ein Wahnsinn, sechsunddreißig Prozent Zinsen zu zahlen. Es mußte Betrug sein! Er war ja verblendet gewesen, daß er das nicht vom ersten Augenblick an durchschaut hatte!
Alle waren sie verblendet. Sie waren mißtrauisch und gierig – und ihre Geldgier, die Sucht, wenigstens auf eigene Rechnung noch den verlorenen Krieg zu gewinnen, das eigene Schäflein zu scheren, die anderen mochten hundertfachverrecken, war himmelschreiend! Dieser Lemke war ein wahres Muster! Als der Chef ihm Geld schenkte, ihm Zinsen auszahlen ließ, die ihm nicht zukamen, das Unsolideste tat, was ein Kaufmann tun konnte – da gewann er Vertrauen. Als er richtig betrogen wurde, da glaubte er!
Nur raus aus dieser Bruchbude! Ich bin ja blöd gewesen! Ich habe geschworen, ich will nie wieder was mit Erich zu tun haben! Und er fing an, heimlich in den Zeitungen nach Stellenangeboten zu suchen. Ach, sie waren so dünn gesät, erst jetzt fiel ihm auf, wie dünn sie gesät waren! Und er kam immer zu spät. »Danke, längst besetzt! Müssen Sie ein bißchen früher aufstehen, junger Mann!«
Es war eine verdammte Stimmung, die man von solcher »Bewerbung« mitbrachte. Aber es half alles nichts, ob verdammt oder nicht, ob Stellung oder keine – Dreck blieb Dreck, und mit Dreck gab er sich nicht ab!
Jeden Morgen, wenn er von der nun schon so schwer beweglichen Irma Abschied nahm, um ins Geschäft zu traben, verfluchte er sich wegen seiner Feigheit: Ich dürfte gar nicht gehen! Ich bin feige! Lebensangst, jetzt habe ich sie auch …
Es war wie damals bei Erich und Tinette. Nein, Erich ließ sich nicht vergessen, alles erinnerte an Erich. Auch damals hatte er sich hundertmal geschworen, nicht wieder in die glänzende Villa zu gehen – und war doch gegangen, wie er jetzt jeden Morgen ging! Er war damals so lange feige gewesen, bis es ganz schlimm gekommen war: Demütigung, schmachvolle Niederlage … Es durfte nicht wieder ganz schlimm kommen! Er mußte die Stellung aufgeben …
Ja, wenn nicht Irma und das Kind wären, für mich allein hätte ich schon den Mut!
Aber das war bloß eine feige Ausrede, sich vorzumachen, was man alles tun würde, wenn und wenn nicht. Wenn ihm Doktor Hoppe wenigstens gekündigt hätte, daß er einen Anspruch auf Stempelgeld bekam! (Wieder so ein »Wenn«!) Er wurde brummig und wortkarg, er gab unklare Auskünfte, kaute herausfordernd auf dem Federhalter, wenn viel zu tunwar, sagte »Herr Hoppe« statt »Herr Doktor Hoppe«, und band sich einen Schlips mit viel Rot um.
Er fand sich kindisch, er fand sich entsetzlich feige, daß er so dem anderen die Entscheidung über das eigene Schicksal zuschob, und tat’s doch, tat’s wieder – verkroch sich … Man muß doch praktisch sein, tröstete er sich. Lebensklug. Man soll das schmutzige Wasser nicht wegschütten, ehe man sauberes hat, so heißt es doch sogar im Sprichwort.
Und dann kam alles viel schneller, als er für möglich gehalten hätte. Wirklich nahm ein anderer die Entscheidung über sein Schicksal in die Hände …
Denn als er eilig mit ein paar Briefen durch die Drehtür zum Postamt rennen wollte, kam von der Straße herein ein anderer, sah durch das Glas ihn hinausgehen … Beide drehten eifrig die Tür, Heinz drehte den Bruder Erich in die Bank hinein; nicht weniger eifrig drehte der Bruder Erich seinen Bruder Heinz aus der Bank hinaus. Dabei sahen die beiden einander sehr nahe durch das Glas an. Heinz hatte einen wütenden und doch verlegenen Gesichtsausdruck; Erich schien ungerührt die Sachlage zu prüfen, sah die Briefe in des Bruders Hand, sah, daß der Bruder ohne Mantel war …
Auf der Straße blieb Heinz stehen, er mußte stehenbleiben, er mochte wollen oder nicht. Drüben, in der Halle, sah er den Bruder stehen und auch auf ihn zurückschauen. Bruder Erich gab durch das Türglas kein brüderliches Erkennungszeichen, tat auch nicht die Absicht
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