Der eiserne Gustav
anzuziehen. Da liege ich denn und zähle mir an den Knöppen ab, Selbstmord, Verbrechen, Stempeln …?«
»Du mußt komische Knöppe haben, daß die immer fürs Stempeln sind …«
»Nee, weil ich feige bin, Mensch, man muß sich doch nich ’ne Soße um alles rum machen! Feige ist der Mensch vor allem, feige – du, ich; alle sind sie feige.«
»Dann quassel hier auch nicht von Selbstmord und Verbrechen!«
»Sag lieber nichts! Plötzlich ist so’n Ding passiert! Weißt du, ich habe alle Abende so’ne Bar an der Tauentzien auf dem Kieker. Da kommt immer so ein Dicker, der hat eine ganz geschwollene Brieftasche … Und so gegen eins geht er im Halbdustern schräg über’n Wittenbergplatz …«
»Halt deinen Sabbel!« schrie Hackendahl wütend. »Alles Angabe von dir!«
»Reg dich bloß nicht so künstlich auf! Du hast wohl auch schon an so was gedacht, daß du dich so künstlich aufregst« Aber du bist natürlich genauso feige wie ich.«
»Wenn du jetzt nicht die Fresse hältst, Marwede!« Und Heinz Hackendahl zeigte ihm drohend die Faust.
Aber nach so etwas kam er völlig erledigt nach Haus. Da sah er dann seinen Sohn, dieses Kind Otto, das so merkwürdig wenig weinte. Es hatte im Bettchen gelegen, da ging sein Vater stempeln. Als es seine ersten Laufversuche machte, ging sein Vater stempeln. Otto lernte sprechen, und sein Vater ging derweile stempeln. Und sah sich immer weiter stempeln gehen, vielleicht konnte ihm sein Sohn, noch etwas später, ein bißchen Gesellschaft leisten auf dem Wege zur Stempelstelle. Und noch später, dann stempelten sie vielleicht gemeinsam, Vater und Sohn.
So konnte man manchmal denken, und dann klangen einem die Worte Selbstmord oder Verbrechen so unheilvoll im Ohr …
»Du, Irma«, sagte er dann. »Ist dir das immer noch nicht über, mit einem Arbeitslosen zum Mann?«
»Schlechte Stimmung?« fragte sie. »Laß man, es wird schon wieder. Ganz plötzlich, paß auf, wenn du ganz verzweifelt bist …«
»Dann müßte es allerdings wirklich plötzlich kommen, so etwa in den nächsten drei Minuten … Nein, ob du es noch nicht über hast, frage ich?«
»I wo! Ein richtiger Berliner verliert den Mut noch langenicht. Geh jetzt mal los zu Mutter. Die wollte sehen, ob sie Heringe für uns kriegt. Beeil dich aber ein bißchen!«
»Heringsbändiger!« sagte er, ging aber doch.
Und dann kam wieder ein Tag, und alles war anders. Der Himmel brauchte gar nicht etwa blau zu sein, es konnte ruhig regnen, aber das Herz schlug anders, es schlug kraftvoll, hoffnungsvoll. Das wäre doch gelacht, dachte er, wenn ich mich unterkriegen ließe! Ich habe so ein Gefühl … Er fuhr mit beiden Beinen aus dem Bett.
»Ich habe so ein Gefühl, Irma«, sagte er, »heute passiert was. Natürlich was Angenehmes. Und mit dem Essen warte nicht auf mich, ich will heute mal zur Sophie …«
»Gut«, sagte sie. »Hals-und Beinbruch!«
An solchen optimistischen Tagen war das Stehen an der Stempelstelle nur dann unangenehm, wenn es lange dauerte. Über Marwede konnte man bloß lachen. »Na, immer noch kein Mord? Kein Selbstmord? Kollege, du wirst hier sicher noch dein goldenes Jubiläum feiern! Du wirst Ehren-Arbeitsloser, mit der Stempelkarte am Band!«
Worüber dann Marwede wieder in Wut geriet!
Aber das war einem egal. Kaum war die Stempelei vorüber, raste man los. Man hatte einen Elan, man hatte einen Schwung im Leibe. In den Zeitungshäusern kriegte man immer gleich die Zeitungen, die man brauchte, sah sofort die Inserate, die etwas versprachen. Und lief wieder los.
Und der Schwung, der Glaube, die Hoffnungsfreudigkeit trugen einen in die fremden Büros, man überrannte mit lächelnder Miene seine Mitbewerber, man bezauberte die Personalchefs, entlockte den griesgrämigsten Arbeitgebern ein Lächeln. Dann konnte man einfach alles: nicht nur doppelte Buchführung, italienische wie amerikanische, selbstverständlich bilanzsicher, sondern auch Schreibmaschine, Stenographie, englische und französische Korrespondenz. Schaufenster dekorieren? Selbstverständlich, können wir auch …
An solchen Tagen war es einem fast egal, wenn sie schließlich doch nur sagten: »Sie bekommen Bescheid von uns.« (Der Bescheid kam nie.) Oder: »Alles besetzt! Leider – grade so was wie Sie hätten wir gebraucht. – Na, wir merken Sie vor.«
Und man zuckte kaum, wenn es hieß: »Was, das Inserat? Das haben wir doch schon vor sechs Wochen aufgegeben! Die Brüder drucken’s einfach noch mal, damit sie überhaupt
Weitere Kostenlose Bücher