Der Eiserne König
»Wenn ihr euch weigert, droht Gewalt.«
Der Vogt blieb stehen, rieb sein stoppelbärtiges Kinn und erwiderte über die Schulter: »Der Eiserne König? Mit diesem Ammenmärchen lockst du keinen Köter hinter dem Ofen hervor. Wir haben die Gografen in die Flucht geschlagen. Wir brauchen keine Herren. Wir sind frei. Und reich!«
»Wir sind reich und frei, Krüppel!«, schrien die zerlumpten Kinder. »Verpiss dich endlich, oder du bekommst einen Stein gegen deine hohle Birne!«
Der Fremde verkniff sich ein Grinsen. Dann ließ er den Blick über die Katen gleiten und sagte: »Reich und frei scheint hier das Gleiche zu sein wie faul und verkommen.« Er schwang sich lachend in den Sattel. »Lebt wohl!«, rief er dem Vogt zu, als er davongaloppierte. »Solange ihr noch lebt.«
Der Vogt schürzte verächtlich die Unterlippe und brüllte die Kinder an: »Was glotzt ihr so? Schert euch davon!« Steine flogen, und die Jungen und Mädchen sangen: »Der Vogt liegt zwischen Busen; er will mit jeder schmusen; und wenn er sie satt hat, jagt er sie fort und holt sich ’ne neue von da oder dort!« Sie flohen johlend, als der Vogt auf sie zustapfte. Dann machte er kehrt, um sich zu erleichtern.
Die Kinder rannten in die Wiesen, wo sie den Nachmittag über spielten und nach Beeren und Pilzen suchten, denn wenn es überhaupt etwas zu essen gab, so waren es alte Kartoffeln oder Rüben, aus denen die Frauen eine wässrige Suppe kochten, und manchmal gab es Hafergrütze. Die Sonne stand schon tief, als die Kinder aus Ried gebastelte Schiffchen auf einen Bach setzten. Ein Junge riss einer Libelle die Flügel aus, angefeuert von seinen Freunden. Die Kinder waren so beschäftigt, dass sie die von Westen kommenden Reiter nicht bemerkten. Sie schreckten erst auf, als sich eine Lanze auf die Brust des Jungen richtete, der die Libelle verstümmelte.
»Ts, ts, ts«, sagte der Reiter, ein hagerer, bis an die Zähne bewaffneter Mann aus Blaubarts Gefolgschaft. »So etwas tut man nicht, Kleiner. Das ist grausam.«
Der Junge ließ das Insekt fallen. Die übrigen Kinder wichen zum Bachufer zurück und starrten die fünf Dutzend Reiter an, allesamt wüste, gut gerüstete Gesellen.
»Ist das euer Dorf?«, fragte der Mann, indem er den Jungen mit der Lanze in die Brust piekste und mit einem Daumen auf die fünf oder sechs Steinwürfe entfernten Häuser wies.
Der Junge nickte stumm.
»Dann bleibt besser hier«, sagte der Mann, »denn ich mache Kinder nur ungern einen Kopf kürzer.« Er trieb sein Pferd an und ritt weiter, gefolgt von seinen Männern. Ihr Banner zeigte einen Kreis mit einem Quadrat darin, das ein Dreieck umschloss; der Grund war schwarz, die Formen golden.
Mädchen und Jungen sahen den Reitern nach, die über das graue Gras der Wiesen galoppierten. Die Kinder waren so schreckensstarr, dass sie sich nicht von der Stelle rührten. Bald darauf ertönten wütende Rufe im Dorf, in die sich das Gebrüll von Männern mischte. Dann hörten die Kinder, die immer noch wie erstarrt dastanden, Schreie und Hilferufe, die immer lauter und schriller wurden und in ein Kreischen übergingen, das höchste Not und Todesangst verriet. Manchen Kindern liefen Tränen über die Wangen, vermischten sich mit dem Schnodder, tropften auf nackte Füße und schmutzige Röcke. Schweine quiekten, als würde man sie abstechen, Hunde und Katzen rannten fauchend und kläffend davon. Zwischen den Katen tauchten immer wieder Reiter auf, die Schwerter und Äxte schwangen, und schließlich schlugen Flammen aus den Strohdächern. Ein kleiner Junge klammerte sich an den Rock seiner Schwester und schrie nach seiner Mutter.
So ging es, bis die Sonne hinter dem Horizont versunken war und das Dorf nur noch aus qualmenden Ruinen bestand. In der Abenddämmerung zogen die Reiter ab. Einer drehte sich um und reckte die Lanze in Richtung der Kinder, die sich entsetzt aneinanderkauerten.
Die beiden ältesten Jungen, der Sohn des Wirts und der Sohn des Schmieds, pirschten nach längerem Warten zum Dorf. Bei ihrer Rückkehr waren sie kreidebleich. Sie sanken am Bachufer zu Boden und schluchzten in die vor dem Gesicht verschränkten Arme.
Kaum jemand hatte überlebt.
Dies widerfuhr allen Dörfern, die sich dem Eisernen König nicht beugen wollten.
Zeisig und Sperling, von Maleen zur Erkundung der Lage ausgeschickt, folgten dem Lauf des Welsflusses nach Süden. Sie konnten die Feste der Gografen schon aus weiter Ferne an der Rauchfahne erkennen, und als sie tiefer gingen,
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