Der Eiserne König
untersuchte ein Brandeisen, das in der Asche eines Lagerfeuers lag. »Das Schandmal«, sagte er. »Man hat jemanden gebrandmarkt.« Er schnüffelte. »Und zwar die Hexen.«
»Die Hexen? Gebrandmarkt?«, hauchte der Fuchs. »Tja, sie haben es gewiss verdient, aber … wollen wir nicht endlich von hier verschwinden?«
Die abgestorbenen Eichen knarrten im Wind, und der Nebel wurde dichter. Manche Gräber waren mit verwitterten Stelen gekennzeichnet, auf anderen standen halbverfallene, von Dornenranken überwucherte Schreine.
»Wir müssen die Grabkammer erkunden.« Meister Grimbart trabte zur Treppe, die zwischen den Findlingen in die Erde führte. Ein Modermuff drang zu ihm herauf.
Reineke Fuchs spähte über die Schulter des Dachses. »Die Stufen sehen aus wie mit Blut getüncht«, wisperte er. »Willst du wirklich da … da hinunter?«
Statt einer Antwort nahm Meister Grimbart die erste Stufe, wo er verharrte und zu den gewaltigen Steinen aufsah. Als er die offenstehende Eisentür am Fuß der Treppe erreichte, witterte und horchte er. Dann rief er dem Fuchs zu: »Komm endlich, du Held.« Die im Dunkeln aufragende Mittelsäule verzweigte sich unter der Decke der Grabkammer wie das Astwerk eines Baums. Dahinter stand die Granitplatte, auf der der Eiserne König geruht hatte. »Hier riecht es nach Blut«, murmelte der Dachs. »Und das Blut riecht nach Blütenstaub.«
»Blut? Wessen Blut?«, stieß der Fuchs hervor.
»Gute Frage«, erwiderte Meister Grimbart. Er steckte seine Schnauze in jeden Winkel der Grabkammer. Er betrachtete die Wandmalereien, die die Schreckenstaten des Eisernen Königs verherrlichten. Dann sagte er: »Die Wilde Jagd hat sich hier versammelt. Und die Hexen waren auch da. Ein Geruch kommt mir irgendwie bekannt vor, aber ich kann ihn nicht einordnen.«
»Und?«, fragte der Fuchs. »Hast du etwas entdeckt, das uns helfen könnte, diesen Unhold zu besiegen?«
»Nein«, brummte Meister Grimbart, der sich ratlos umsah. Schließlich sagte er: »Ich glaube, Hans hat sich geirrt. Hier finden wir nichts.«
»Das glaube ich auch«, erwiderte der Fuchs erleichtert. »Lass uns abhauen.« Er wandte sich zum Gehen.
Der Dachs beschnüffelte ein Haarbüschel, das in einem Spalt der Granitplatte hing. »Der Eiserne König
stinkt
«, murmelte er. »Mit ihm verglichen duften Bären nach dem Winterschlaf wie Rosen und Levkojen.«
»Komm endlich!«, rief der auf der Treppe stehende Fuchs.
»Ja, ja, ich komme«, brummte Meister Grimbart. Aber als er die Grabkammer verlassen wollte, blieb er wie angewurzelt stehen – die Frau, die ihnen auf der Lichtung erschienen war, stand plötzlich neben der Granitplatte. Sie hob einen langen, von oben bis unten tätowierten Arm und zeigte auf die in der Platte steckenden Haare. Der Fuchs zuckte bei ihrem Anblick zusammen und winselte, als hätte ihn jemand auf die Lunte getreten.
Der Dachs starrte sie an. Dann fragte er: »Wer bist du?«
Die Frau schwieg, wies aber immer wieder drängend auf die Haare.
»Sie ist ein Geist«, keuchte der Fuchs. Seine Schnurrhaare bebten, und er floh die Treppe hinauf.
In der Grabkammer war es still. Meister Grimbart konnte den Blick nicht von der Frau lösen. Sie lächelte. Dann wurde ihre Miene ernst, und sie zeigte erneut auf die Haare. Da sich der Dachs weder vom Fleck rührte noch zu begreifen schien, hauchte sie nach einer Weile mit einer Stimme wie im Wind raschelndes Schilf: »Der Bart des Eisernen Königs. Nimm ihn an dich.«
Der Dachs rümpfte angeekelt die Schnauze.
»Der König wurde mit dem Blut der blinden Feen zum Leben erweckt«, flüsterte die Frau. »In seinen Adern fließt der dunkle Dunst des Dornenhags. Die Hexen kappten den Bart, der ihn auf sein Lager band. Seine Haare sind mächtig.« Sie legte die rechte Hand auf die Granitplatte. Dann schloss sie die Augen. Die Runen auf Oberkörper und Armen leuchteten auf – blau wie das Licht der Welse –, und der Granit zerbrach und sank leise in den Staub der Grabkammer. Die Frau griff nach dem Bart und näherte sich dem Dachs, der gegen die Wand zurückgewichen war. »Nimm ihn«, sagte sie und streckte ihm den Bart hin. »Und finde jene, die wissen, was damit zu tun ist.«
»Wer … wer bist du?«, fragte Meister Grimbart wieder.
Die Frau sah ihn lange an. Dann antwortete sie: »Ich bin Urd, eine der Ragnarökk. Die Regeln meines Volkes untersagen mir, euch zu helfen. Ich darf mich eigentlich nicht einmal zeigen, aber auf Yggdralls Wunsch hin habe ich mich
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