Der Eiserne König
Wange streifte. Die Eichhörnchendame kletterte bis zur Schelle und versuchte, den Schlüssel in das Schloss zu stecken, was ihr nach einer Weile auch gelang. Aber sie konnte ihn nicht umdrehen.
»Verdammt«, zischte Hardt. »Die Ungeheuer sind bestimmt bald zurück.«
Die auf der Schelle sitzende Eichhörnchendame sah sich um. Ihr Blick fiel auf eine langstielige Pfeife, die aus einer Tasche des Kultknechts ragte. Sie sprang zu Boden, nahm die Pfeife ins Maul und flitzte wieder zur Schelle. Sie schob den Pfeifenstiel durch das Schlüsselende. Dann sprang sie, griff im Fallen nach dem Stiel und schwang sich mit fliegendem Schweif einmal rundherum. Ein Knirschen, und das Schloss klackte auf.
Das Eichhörnchen landete mit einem eleganten Salto.
Sobald das Gefühl in Kunz’ Finger zurückgekehrt war, löste er die Schellen an den Handgelenken. Er ließ die Ketten zu Boden gleiten. Dann stand er taumelnd auf und befreite seine Gefährten. Sie knebelten den Kultknecht und fesselten ihn an Hardts Platz, der von draußen am besten einzusehen war, an die Wand.
»Die Luft ist rein«, wisperte die Eichhörnchendame.
Die Gefährten traten ins Freie und verriegelten die Kerkertür. Über ihnen wölbte sich die dämmerige Grotte. Gelächter und Schreie waren einer fast unheimlichen Stille gewichen.
Da ertönten Schritte zwischen den Wurzeln; ein Grunzen war zu hören.
»Die Karontiden«, flüsterte Horn.
Unter Führung der Eichhörnchendame huschten sie links von den Ungeheuern in das Labyrinth. Kurz darauf traten die Karontiden ins Freie. Sie blieben ein paar Schritte vor dem Kerker stehen und sahen sich nach dem Kultknecht um. Eine Karontide grunzte, trat vor die Tür und überprüfte die Riegel. Dann warf sie einen Blick durch die Klappe, wandte sich zu ihren Artgenossen um und zuckte mit den schuppigen Schultern. Die Karontiden diskutierten kurz und ließen sich schließlich vor der Felswand nieder.
»Sie glauben bestimmt, dass der Kultknecht zur Marter geeilt ist«, flüsterte Kunz.
»Aber sie werden bald Verdacht schöpfen«, erwiderte Hardt. »Und wir haben keine Waffen.«
»Dummerweise kann man den Kultknechten die Klinge nicht abnehmen«, murmelte Kunz.
Horn grinste. »Wir sind nicht schutzlos«, wisperte er. »Wartet ab!«
Seine zwei Gefährten sahen ihn fragend an.
»Hier entlang«, hauchte die Eichhörnchendame.
Hardt nahm den Sack mit dem Knüppel, und Horn schob sich den Ranzen auf den Rücken. Dann folgten sie dem Tier durch das Labyrinth der knorrigen, bemoosten Wurzeln. Nach einer Weile wurden wieder Stimmen laut, aber sie klangen weder nach Marter noch sadistischem Vergnügen.
Sie klangen nach Streit.
19. Mädchenruhe
Ooooh …«, stöhnte der Fuchs. »Wieso bin ich nicht an Land geblieben? Ich bin Nichtschwimmer. Das ist Irrsinn.«
»Wenn du dich nicht zusammenreißt«, knurrte der Dachs, der neben der schlafenden Maleen am Heck des Bootes lag, das sie am Anleger bestiegen hatten, »reiße ich dich entzwei.«
Die Muhme saß am Bug, eine Hand auf der Bordwand, in der anderen die glimmende Pfeife. Gischt sprühte ihr ins Gesicht, Nebelfetzen sausten vorbei, und der Fahrtwind zerrte an ihrer schwarzen Haube. Das von den Welsen gezogene Boot glitt flussaufwärts, eingeschlossen in das Dunkel wie ein Insekt in Bernstein.
»Ich glaube«, rief die Muhme dem Dachs zu, »wir haben das Himmelstor schon hinter uns gelassen. Wenn die Welse das Tempo durchhalten, sind wir morgen Mittag beim Werder mit der Feste der Gografen.«
»Ja?«, erwiderte der Dachs, dem insgeheim genauso übel war wie dem Fuchs. »Das wäre … wunderbar.«
»Diese Welse sind großartig!«, rief die Muhme. Der Rauch ihrer Pfeife flog über ihre Schulter davon. »Nur die Tiere sind mutig genug, um dem Unheil die Stirn zu bieten.«
»Danke, danke«, japste Meister Grimbart. »Zuviel der Ehre.«
Reineke Fuchs hängte die Schnauze über Bord und würgte.
Die mit einem Segeltuchrest zugedeckte Maleen hatte einen Traum, in dem sich das Schicksal der Gefährten mit dem Ziel ihrer Fahrt vermischte. Sie stieg auf einen Berg, der in einer Ebene aufragte. Oben stand sie vor einer Hecke, hoch wie ein Festungswall, in dessen Dornen Frauen und Männer hingen. Manche waren tot, manche atmeten schwach. Niemand konnte sich aus den Ranken befreien. »Ich rette euch!«, rief Maleen. »Du kannst uns nicht mehr retten«, sagte eine Frau mit dunklen, an Sneewitt erinnernden Augen, und senkte ihr blutüberströmtes Gesicht. »Dieses
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