Der Eiserne König
sich auffällig von den aschgrauen Uferbäumen abhob.
Die Welse, die das Boot zogen, strebten nimmermüde auf die Feste zu. Im Kielwasser folgten ihre Artgenossen. Manchmal tauchte eine Rückenflosse aus den Fluten auf, und manchmal hob einer der Fische das breite, mit Barteln versehene Maul, als wollte er nach den Insassen des Bootes schauen.
Dachs und Fuchs schliefen unter den Sitzbänken, und Maleen sah über die Schulter der Muhme zur Feste.
»Dieser Hag ist ein Ungetüm«, sagte sie und fühlte sich auf einmal schwach und mutlos. »Er wirkt unüberwindbar.«
»Wie heißt es so schön in Flutwidde?«, erwiderte die Muhme. »Abwarten und Hollerschnaps trinken.« Sie zog eine Flasche aus dem Mantel, entkorkte sie ploppend und fragte: »Auch einen Schluck, mein Kind?«
Maleen schüttelte den Kopf.
Die Muhme ließ Hollerschnaps durch ihre Kehle rinnen. »Ah …«, seufzte sie. »Das tut gut.«
Die wahre Höhe und Dichte des Dornenhags, der den Hügel mit der Feste wie eine lebendige Gefängnismauer umschloss, wurde erst beim Näherkommen deutlich. Baumstammdicke Ranken mit Dornen, lang wie Zweihänder, verflochten sich zu einem Gespinst, das bis zu den Zinnen des obersten Walls reichte. Maleen kam der Gedanke, dass dieser Hag ein bösartiges Gegenstück zur Esche bildete. Sie musste an ihre Gefährten denken; ihre Kehle war wie zugeschnürt, und sie klammerte sich an die Muhme.
Die tätschelte ihre Hand. »Keine Sorge, meine Kleine«, sagte sie.
Der Welsfluss umfing den Werder mit zwei Armen. Auf jeder Seite führte eine Brücke an Land. Je näher sie der Feste kamen, desto steiler ragte der Hag auf, dessen Schatten von der im Südwesten stehenden Sonne über den Fluss und weit auf das Ostufer geworfen wurde. Bald war nicht einmal mehr der Bergfried zu sehen. An der Spitze des Werders, dort, wo sich der Fluss gabelte, zogen die Welse das Boot geschickt in einen toten Winkel der Strömung. Der Bug knirschte auf das sandige, von Weidenbüschen gesäumte Ufer. Krähen flogen krächzend auf, schraubten sich vor dem Hag in die Höhe und verschwanden auf der anderen Seite. Maleen und die Muhme sprangen ins Wasser, schoben das Boot unter herabhängende Zweige und vertäuten es an einem Stamm.
Dann rief die Muhme: »He, ihr Schlafmützen! Aufgewacht.«
Eine Weile tat sich nichts. Dann schob der Fuchs benommen die Schnauze über die Bordwand. »Ich bin … tot«, ächzte er. »Mir ist so … übel.« Er öffnete ein Auge und ließ die Pupille kreisen. Beim Anblick des Hags riss er auch das andere Auge auf. »Oh!«, stieß er hervor und drehte sich zum Dachs um. »Sieh dir das an.«
Wieder tat sich eine Weile nichts. Schließlich erschien die schwarz-weiße Schnauze Meister Grimbarts. »Was soll ich mir ansehen?«, murmelte er. »Zicke und Zecke … Mein Kopf brummt wie nach drei Flaschen Kartoffelschnaps.« Dann sah auch er den über den Baumwipfeln aufragenden Hag. Er legte den Kopf so weit in den Nacken, dass die Schnauze senkrecht stand. »Hagel, Graupeln und Gewitter«, flüsterte er. »Was im Namen des gesunden Tierverstands ist
das
?«
»Das ist der Hag, der die Feste der Gografen umgibt«, sagte die Muhme. »Kommt her. Wir müssen uns beraten.«
Der Dachs kraxelte über Bord und patschte an Land, gefolgt von Reineke Fuchs. »Was für ein Monster«, sagte er, als er sich neben Maleen niederließ. »Welche Macht hat es wachsen lassen?«
»Sicher keine gute«, erwiderte der Fuchs, froh über den festen Boden unter seinen Pfoten.
»So ist es«, sprach eine tiefe, glibschige Stimme. »Dieser Hag verdankt sich einem bösen Zauber. Bei Neumond wurde mit dem Blut von elf Jungfrauen ein Kreis um die Feste gezogen. Bis zum Vollmond wurde der Setzling des Hags allnächtlich mit den Tränen bewässert, die man die Jungfrauen vor ihrem Tod weinen ließ. Dann begann der Zauber zu wirken. Der Hag schoss in die Höhe, und alle, die er einschloss, fielen in einen tiefen Schlaf.«
Die zwei Frauen und die zwei Tiere starrten den riesigen, im seichten Wasser liegenden Fisch an. Das war der alte Waller, das Oberhaupt der Welse. Hinter ihm hatten sich die übrigen Welse versammelt; es waren mindestens zwölf Dutzend. Der Fluss glitzerte in der Sonne, und das aschgraue Laub der Uferbäume raschelte im Wind.
»Wir sind zurückgekehrt«, fuhr der alte Waller fort, »um euch zu helfen. Wir können nicht dulden, dass sich der Eiserne König wieder erhebt.«
»Das klingt gut«, bemerkte der Fuchs. »Aber wie überwinden
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