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Der Eiserne Rat

Der Eiserne Rat

Titel: Der Eiserne Rat Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: China Miéville
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durch die Jahrhunderte Schreckensgestalten der städtischen Mythologie; von bösem, widernatürlichem Leben besessene Leichenhände (sagten die einen), aus der Hölle verstoßene Teufel (sagten andere), die das Bewusstsein ihrer Wirte übernahmen und deren Körper mit vielen neuen Fähigkeiten ausstatteten.
    Wenn einer ohnehin zum Tode verurteilt ist, hatte Stem-Fulcher argumentiert, und die Stadt in einer Notlage der Dienste bedarf, die die Handlinger anbieten, wäre es törichte Gefühlsduselei, nicht die sich anbietenden Konsequenzen zu ziehen. Und selbstverständlich würde man sie streng unter Aufsicht halten.
    Den schönen Worten zum Trotz hatte die Ankündigung eine neue Protestwelle ausgelöst, mit der die Bürger ihren Abscheu vor dieser geplanten Maßnahme bekundeten, die verhängnisvolle Handlinger-Revolte. Die Menge, die sich anschickte, mit Booten über den Gross Tar zu setzen und das Parlament zu stürmen, scheiterte an denen, deren politische Legitimierung man verhindern wollte, Männer und Frauen, die sich plötzlich aus den eigenen Reihen erhoben und Feuer spien, Dextrier-Handlinger im Fleisch zum Tode verurteilter Delinquenten.
    Cutter redete lange, um nicht einzuschlafen. Er hatte große Angst davor, als ein anderer zu erwachen. »Und wenn der Torques uns hier erreicht?«, fragte er immer wieder. Die Remade beruhigten ihn auf unterschiedliche Weise: Der eine sagte, wenn deine Stunde gekommen ist, dann ist sie gekommen, der andere, dass sie weit genug entfernt wären, dass sie von dem Torques eigentlich nichts zu befürchten hätten.
    In dieser Nacht wurden sie überfallen.
     

     
    Cutter erwachte von einem reißenden Geräusch und sah, als er die Augen aufschlug, umrahmt von grauem Mondlicht ein Gesicht, das auf ihn hinunterschaute. Schlaftrunken glaubte er, noch in einem Traum befangen zu sein. Dann hörte er Schüsse krachen. Er riss sich los von der Physiognomie über ihm, dem fragenden, monströsen Mienenspiel.
    Als das Adrenalin in ihm explodierte, war er bereits aufgesprungen und nach draußen gestürzt: Wo sind die anderen, was ist passiert, was soll ich tun? Ein Blick genügte, um ihm zu zeigen, was gekommen war und was passierte, und die Knie wurden ihm weich, und er ruderte mit den Armen, um nicht hinzufallen.
    Seine Gefährten liefen hin und her und feuerten mit Pistolen und Gewehren, und aus dem Durcheinander stieg ein gellendes Kreischen, das Cutter veranlasste, ebenfalls aufzuschreien. Sein Zelt, aus dem er geflüchtet war, bockte wie ein zotteliges Ungetüm, als das Ding, das es zerrissen hatte, die Fetzen schwenkte wie Flügel. Cutter sah eine wellenähnliche, spastische Bewegung und hörte/spürte Wumm! den Aufprall von etwas Schwerem auf dem Boden, einmal, zweimal. Das dumpfe, rätselhafte Geräusch wiederholte sich überall um ihn herum.
    »Buckler!«, hörte er Elsies überschnappende Stimme.
    Die Kreatur schleuderte die Fetzen des Zeltes auseinander, der Wind riss sie zwirbelnd in die Höhe, und aus ihrer Mitte erhob sich, wie durch einen billigen Bühneneffekt, sein nächtlicher Besucher, der ihn neugierig und hungrig durch das Wachstuch hindurch gewittert hatte. Aus dem Schwarm der Zeltlappen näherte sich sein Bedränger. Spannerraupe. Kohramit. Homo raptor geometridae. Ein Inchman oder Buckler.
     

     
    Cutter stand da wie vom Donner gerührt. Das Gesicht der Kreatur hing wie eine boshafte Dämonenmaske vor ihm, fuhr unvermittelt ein Stück auf ihn zu, mit einer heftigen Bewegung auf und ab, deren Zweck Cutter erst nicht begriff.
    Größer als er, aber nur Oberkörper, der aus dem Boden zu wachsen schien, ein Kopf vom doppelten Umfang des seinen, lange Arme, nur Haut und Knochen, die Hände gespreizt oder mit den Knöcheln aufsetzend, unterstützten die Fortbewegung. Fast menschenähnlich zu nennen, dieser Torso, der Mund offen gehalten von einem Verhau langer schwarzer Zähne, nadelspitz. Die Augen waren nicht zu sehen. Zwei hohle Gruben, eine Masse runzliger Haut und Schatten: falls die Kreatur sehen konnte, dann aus der Dunkelheit. Sie wendete sich hin und her, schnüffelte, warf den haarlosen Schädel nach hinten, klappte das zahnbewehrte Maul auf und zu. Dann änderte sie die Richtung, und Cutter bot sich ein Blick auf die hintere Körperhälfte.
    Ein plumper Schlauch, ein gigantisch vergrößerter Raupenleib, gespickt mit Borstenbüscheln, aufschmatzenden Ventrikeln, blinzelnden Sphinkteren, fahlbraun, mit Warnfarben gesprenkelt. Die Menschenhälfte verschmolz

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