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Der Eiserne Rat

Der Eiserne Rat

Titel: Der Eiserne Rat Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: China Miéville
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Sätzen stürmte er auf den Lehmriesen zu und sah auf dessen Schultern jemanden sitzen und winken, einen Mann, der jetzt zu Boden sprang und ihm mit weit ausgebreiteten Armen entgegenging. Dabei rief er etwas, doch man konnte es nicht hören. Jeder seiner Schritte, wie auch die Cutters, störte Pollen und klebrige Insekten auf, die an ihnen haften blieben.
    Cutter lief bergauf, der Mann lief bergab. Cutter rief, er rief den Namen des Mannes. Seine Stimme überschlug sich. »Wir haben dich gefunden«, schluchzte er. »Wir haben dich gefunden.«

 
Zweiter Teil

     
Rückkehr

 
Kapitel 6
     
     
    Hoch über dem Marktplatz sprang ein Fenster auf. Allüberall gingen über Marktplätzen Fenster auf. Eine Stadt der Märkte, eine Stadt der Fenster.
    Wieder New Crobuzon. Sein unermüdliches, rückhaltloses Selbst. Mild dieser Frühling, mefitisch: Die Flüsse stanken. Lärmend. Unaufhörlich New Crobuzon.
    Was kreiste um die himmelwärts gereckten Finger der Stadt und tummelte sich darüber? Vogelvielfalt, geflügeltes Ungeziefer, Wyrmen (lachende, affenfüßige Geschöpfe) und Luftschiffe in frechen Farben und Rauch und Wolken. Die natürlichen Gegebenheiten des Bodens, in dem es wurzelte, hatte New Crobuzon, das megalopolische, längst vergessen. Es folgte mit seinem Auf und Ab gänzlich anderen Launen: ein Labyrinth auf drei Ebenen. Ziegel und Holz, Beton, Marmor und Eisen, Erde, Stroh und Lehm bauten Dächer und Mauern.
    Bei Tag verbrannte die Sonne die Farbe dieser Mauern, versengte die zerfransten Ränder der Plakate, die sie bedeckten wie Gefieder, färbte sie allmählich teegelb. Reste gemalter Schriftzüge auf zerbröckelndem Putz erzählten von vergangenen Vergnügungen. Da hing der berühmte Schablonendruck des Dirimisten vom Eisernen Rat, von einem namenlosen, dissidenten Graffitikünstler amateurhaft in Serie wiederholt. Ein Wahrzeichen war das luftige Schienennetz der Schwebebahn, kreuz und quer gespannt zwischen hoch rankenden Türmen, die bei dem Betrachter die Vorstellung von den geborstenen Säulen eines Göttersaals weckten. Die Kabel schwangen in der Luft und erzeugten Töne, folglich spielte der Wind auf New Crobuzon wie auf einer Harfe.
    Die Nacht brachte neues Licht, elyktro-barometrische Röhren, mit Leuchtgas gefüllt, Glasschlangen, zu Namen, Texten, Umrissen von Bildern gebogen. Eine Dekade zuvor hatte es sie nicht gegeben, oder sie waren sehr lange in Vergessenheit geraten; neuerdings tauchten sie nach Einbruch der Dunkelheit die Straßen in ihr grelles, flimmerndes Licht und überstrahlten die Gaslaternen.
    Und der Lärm, Tag wie Nacht. Erzeugt ohne Reue. Immer waren Leute unterwegs, überall. New Crobuzon.
     

     
    »… der erscheint beim Offiziant – als formeller Antragsteller, – doch zeigt sich jener drob empört, – einen Antrag ihm zu machen – sei unverschämt und nicht zum Lachen – vielmehr gänzlich unerhört …«
    Auf der Bühne gurrte und schnurrte sich die Chanteuse Adeleine Gladner unter ihrem Künstlernamen Adely Gladly (so auszusprechen, dass es sich reimte: Aderly Gladerly) durch ihre Nummer »Formeller Antragsteller«, unter Applaus und Johlen voll trunkener Herzlichkeit. Sie vollführte gezierte Tanzschrittchen, warf mit der Ferse die lange Rockschleppe hoch (ihr Kostüm war das aufgerüschte Klischee der Aufmachung einer Bordsteinschwalbe aus der guten alten Zeit, die Wirkung deshalb eher neckisch als frivol). Sie wedelte den begeisterten Freiern mit den Spitzenvolants ins Gesicht und lächelte, bückte sich nach den Blumen, die auf die Bühne flogen, ohne ihr Lied zu unterbrechen.
    Ihre gefeierte Stimme wurde voll und ganz den Erwartungen gerecht, rauchig und wunderschön. Das Publikum lag ihr zu Füßen. Ori Ciuraz, im Hintergrund des Saals, war ein ironischer Zuhörer, aber keineswegs immun. Die anderen an seinem Tisch kannte er nur so weit, dass man sich gelegentlich zuprostete. Sie beobachteten Adely, und er beobachtete sie.
    Follibeckers Haus war riesig und zum Bersten gefüllt; bis unters Dach wogten die Schwaden von Tabakqualm und Drogendunst. In den Logen und auf der Empore saßen die wichtigen Männer mit ihrem Tross, und hin und wieder auch die wichtigen Frauen. Francine 2, die Unterweltkönigin der Khepri, war öfter zu Gast. Die Einfassung aus gipsernen Drachen und schamlosen Nymphen behinderte die Sicht, aber Ori konnte erkennen, dass die Person in dieser Loge ein hohes Tier bei der Miliz war, und in der da drüben saß einer der Fishbone-Brüder und

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