Der Eiserne Rat
erpressen freie Kost und Logis in anderen. Oil Bill singt Balladen von wandernden Renegaten. Judah gibt Vorstellungen für ihn, knetet Golems – die einzige Kunst, die er beherrscht – aus Essensresten und lässt sie über den Tisch tanzen. Er bemüht sich dabei, gleichmäßig und rhythmisch zu atmen, wie er es bei den Stiltspear beobachtet hat.
Jeder Ort macht seine eigenen Gesetze und erzwingt ihre Einhaltung, sofern die nötige Autorität vorhanden ist. New Crobuzon erhebt keinen Anspruch auf die Prärie. Noch will es sie nicht haben, entsendet keine Miliz: Es überlässt die Polizeigewalt und die Gewinne dem TRT. Deren Gendarmen sind das Gesetz in der Region, jedoch lassen sie den Dingen weit gehend ihren Lauf, bewachen nur einige Minen und Handelsstädte.
Auf Grund von Bills Ruf wie Donnerhall dauert es einige Zeit, bis jemand ihn herausfordert und Judah ihn wieder töten sieht. Als er es tut, ist das Opfer ein Ekel, ein streitsüchtiger Trunkenbold, der jeden, den er sieht, mit seinen beweglichen Maledikto-Tätowierungen bedroht. Dennoch erscheint die Tat unverhältnismäßig. Judah starrt auf den Toten, den die Gossenkinder ausplündern.
Das Ding, dessen Geburt er in sich gespürt hat, ein Produkt seines geronnenen Mitempfindens, schlägt mit dem Schweif. Er mag seinen Gefährten nicht.
Des ungeachtet bleibt er bei Oil Bill, wird selbst ein Revolverschwinger in seinem Schatten, tauscht sein Maultier gegen ein gestohlenes Pferd. Oil Bill kann sich nicht von der Eisenbahn losreißen. Sie zigeunern durch die winterlichen Berge. Bill führt sie immer wieder zu den Gleisen zurück.
- Also das da, wo die Lok die Waggons vor sich herschiebt, das ist der Nachschub für die Baustelle. Der fährt ganz hinein ins Ried. Und die anderen Züge, die noch so kommen, da drücken sich die Stadtfräcke an den Fenstern die Nase platt, und der andere, mit den Geschützen hinter der Lok – das ist der Zug mit den Lohngeldern.
Er grinst.
Judah ist neugierig. Man hat bereits mehrfach versucht, die Eisenbahn zu berauben. Abenteuerliche und tollkühne Überfälle von Reitern oder Kutschen, von viel- und schnellfüßigen fReemade, die mit der schnaufenden Lokomotive gleichauf bleiben und die Heizer bedrohen, aufspringen und mit ihrer Beute wieder verschwinden.
Oil Bills Plan könnte gelingen. Er ist primitiv, ohne jede Raffinesse, und er könnte funktionieren, weil Oil Bill weder in Ehrfurcht erstarrt vor dem stählernen Popanz des Fortschritts noch so etwas wie Respekt dafür empfindet. Andere haben Teile einer Brücke zerstört, um den zum Halten gezwungenen Zug zu entern. Bill jedoch hat vor, die Brücke zu sprengen, während der Zug darüber fährt. Ein kriegerischer Akt. Judahs Staunen über die Rohheit des Plans ist so groß, dass es an Bewunderung grenzt.
- Die Gerüstbrücke am Silvergut Gap, sagt Oil Bill und zeichnet eine Skizze auf den Boden. – Das verdammte Ding von einer Brücke ist ein paar hundert Meter lang. Wir warten unten, brennen die Zündschnüre an, sobald der Zug auf die Brücke fährt, und gehen in Deckung. Der wacklige Bau fällt zusammen wie ein Kartenhaus.
Weiter sieht der Plan vor, dass der eiserne Zug, sich in der Luft entfaltend wie eine Ziehharmonika, hundert Meter tiefer auf dem mit Eis gepanzerten Fels zerschellt und, nun ja, die Beute wird geringer sein, weil Kassetten mit Geld Feuer fangen und manche Waggons durch die Wucht des Aufpralls nicht mehr zu öffnen sind und das Blut toter Eisenbahner und Reisender an Banknoten klebt und etliche Goldbarren in Ritzen und Spalten verschwinden. Einige Guineen wird der stürmische Wind, der durch die Schlucht fegt, davontragen, derweil Oil Bill alles Greifbare aufsammelt und einsackt.
Oil Bills Genie besteht in der Begrenztheit seines Ehrgeizes. Ein Räuber mit größeren Visionen würde darauf bestehen, jeden Heller aus den Truhen an sich zu bringen, und diese leichthin in Kauf genommene Zerstörung und Verschwendung wäre ihm unerträglich. Oil Bill ist es gleich, ob der größte Teil der Beute in dem zerstörten Zug verrottet, solange er etwas Klimpergeld in die Finger bekommt, und in seiner simplen, brutalen Naivität könnte der Plan den gewünschten Erfolg zeitigen.
Der Wurm in Judah regt sich, nicht Gewissen, sondern irgendeine nebulöse Gutheit. Er empfindet ihn nicht als zu sich gehörig, aber er nagt an ihm. Er will nicht Bills Komplize sein, doch er ist ihm als Gegner nicht gewachsen. Deshalb muss er gute Miene zum bösen Spiel machen,
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