Der Eiserne Rat
gestohlenen Büchern bestückten Märkten stöbert er nach Literatur über Golems. Er vergeudet viele Schekel an wertlosen Schund und ersteht einige bedeutende Werke, mit denen er kämpft.
Was genau habe ich da getan?, überlegt er. Seine eigenen Fähigkeiten sind ihm ein Rätsel. Ich habe einen Golem aus Gas erschaffen. Kann ich einen Golem aus noch weniger festen Stoffen bilden? Golemetrie ist eine Auseinandersetzung, eine Intervention, ist es ergo möglich, dass ich interveniere und einen Golem schaffe aus Dunkelheit oder Tod, aus Elektrizität, aus Klang, aus Reibung, aus Ideen oder Hoffnung?
Judah nimmt einige Aufträge an. Für die exzentrische Hautevolee, deren Ohr sich vom Scheppern der Konstrukte beleidigt fühlt, konstruiert er ästhetisch gestaltete Männer und Frauen aus Draht und Leder, mit Sand gefüllt. Er berechnet einen hohen Preis: Die Arbeit strengt ihn an.
Er durchwandert die Stadt auf Drängen des Wurms, dieser Absonderlichkeit, die keine Ruhe geben will. Es ist eine starke Gutheit in mir, denkt er ohne Hochmut, aber sie ist ein Fremdling. Ich empfinde sie nicht als aus mir geboren. Bin ich darum gut? Bin ich darum besser? Bin ich darum schlechter?
Judah denkt an Ann-Hari und liest, dass die Arbeiten am Streckenkopf wieder voranschreiten. Im Parlament stellt man Fragen. Der TRT und Weather Wrightby werden aufgefordert, zu befremdlichen Vorfällen Stellung zu nehmen. Bei einem Unfall sind mehrere Arbeiter ums Leben gekommen, eine Steigung hat sich abgeflacht, und die Inspektoren können nicht erklären wieso. Das Hitzewabern und die mehrere Meter breite Zone erstorbenen Lebens zu beiden Seiten werfen Fragen auf, zu denen der TRT sich nicht äußern will.
Niemand sagt Blutopfer, niemand sagt Dæmon, doch verbreitet sich die Vorstellung, Weather Wrightby sei ein Visionär auf der Basis von Geld und Technik, der sich weder von geographischen Gegebenheiten noch vom Wetter oder von Politik aufhalten lässt. Seine Pläne sind eingebettet in den Namen seines Konzerns und bei weitem größer als nur dieses Stück Schienenstrang.
Judah, Judah, Judah. Er denkt seinen Namen. Etwas wird geschehen.
Produkte werden kreiert oder aus dem Fundus der Fetten Jahre wiederbelebt. In der Kunst manifestiert sich ein träges Fließen. New Crobuzon ist voller Baustellen, der Hafen voller Schiffe. In den Läden gibt es raffinierte Luxusartikel zu kaufen. Neben den Plakatkiosken schießen wie Pilze neue Buden empor, Ergebnis einer rigorosen Vermarktung. Überall sieht man das Signet eines Mannes, der die Hand an den Mund hält und ruft.
Was ist das?, wundert sich Judah und tritt ein. Da ist ein Tisch, ein Gerät, eine Anzahl mit Lettern oder Ziffern beschrifteter Tasten, ein Rohr, ein Schalltrichter. Er liest die Gebrauchsanweisung, steckt die geforderte Münze in den Schlitz. Studiert die Liste mit verfügbaren Titeln.
Neujahrsansprache des Bürgermeisters
Ach, dass es nur ein Schlager ist …
Trebushand Symphonette
Et cetera. Er wählt einen Gassenhauer: »Dann geh ich halt ins Armenhaus«, hält das Ohr an den Trichter und lauscht hingerissen, wie etwas, das festgehalten wurde, in die erforderliche Position schnellt, ein Motor anläuft, der Beginn des Abspulens von Klang mit einem Pochen, und dann zuckt er zusammen, als ein Geräusch herausdringt. Es ist das gewählte Lied, irgendeine unbekannte Chansonette, die Nuancen ihrer Stimme gefangen hinter Knistern und Rauschen, aber unverkennbar eine Stimme und unüberhörbar singend. Judah versteht jedes einzelne Wort.
- Dann geh ich halt ins Armenhaus, hörst du mich, ins Armenhaus, das würd ich tun und noch viel mehr – ich geb dich nicht her, geb dich nicht her! Judah hört sie, die haltbar gemachten Worte.
Wachs macht Klang greifbar. Judah ist elektrisiert. Das Wachs hat die Macht, Klang zu konservieren und Wiederaufleben zu lassen.
Eine neue Technologie, die Dressur der Zeit. Man benutzt sie für die endlose Wiederholung von Gassenhauern. Judah denkt an einen anderen Verwendungszweck. Er betrachtet die Notizen, die er im Fenn angefertigt hat. Eine fiebrige Energie ergreift von ihm Besitz, und er fühlt New Crobuzon von sich wegrücken.
Wie oft habe ich den Augenblick verpasst, in dem Macht gesprochen wurde? Er denkt an die, die gestorben sind, weil er einen Augenblick kommen sah, wusste, dass die Kopfgeldjäger oder die Miliz oder die Schienen oder das Gas kommen werden, und gelähmt war von der Unausweichlichkeit. Ich fürchte die
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