Der eiskalte Himmel - Roman
loslässt.
5
Woge
W enn ich die Augen öffne, sehe ich die Wolken am Himmel ziehen. Sie sind schneller als unser Boot, denn sie haben keine Wellenberge zu erklimmen, keine Wellentäler zu durchqueren, und sie haben keine Steine im Bauch.
Wie ich da so auf der Abdeckung liege und die Sonne meine klammen Sachen trocknen lasse, sprudelt es aus mir heraus wie ein Wasserfall. Das Buch, das ich über Sir Francis Drake gelesen habe, sage ich, das sei so grau gewesen wie diese See. Seine Seiten seien vergilbt und dicht bedruckt gewesen, und die ENDURANCE stampfte durch die ForsterstraÃe an der Eisbarriere entlang, als ich mich in meine Bunk verkrochen und mit bis in den Hals pochendem Herzen von diesem streitlustigen Seefahrer gelesen hätte, der ja eigentlich ein Freibeuter gewesen sei.
»In welchem Jahr genau, bringe ich nicht mehr zusammen, doch es war irgendwann gegen Ende des 16. Jahrhunderts, als Drake die Südspitze Feuerlands erreichte und dort, wo man eine sich endlos nach Süden erstreckende Landmasse vermutete, auf eine WasserstraÃe stieÃ. Man stelle sich das vor. Da lag ein namenloses Meer. Keiner vor ihm hatte es gesehen. Drake muss sich gefühlt haben, als hätte er soeben zwei Kontinente voneinander getrennt. Geben Sie zu, Vincent, dass Sie das nicht kalt lässt.«
Vincent scheint gar nicht zuzuhören; seit wir auf See sind, hat er mich keines Blickes gewürdigt.
»Gehen Sie davon aus, dass auch Mister Vincent Drakes Leistung zu schätzen weië, sagt Crean trocken. Er nickt mir zu.
Also fahre ich fort. »âºEs ist ein groÃes und freies Gebietâ¹, schrieb Drake in sein Logbuch, und dass er sich auf einer Klippe auf den Bauch gelegt und Arme und Oberkörper über den Abgrund gestreckt habe. Weià jemand, wie die Klippe heute heiÃt? Kap Hoorn heiÃt sie, und die See, die Drake entdeckte, trennt Amerika von der Antarktis. Es ist die Drake-Passage.«
»Tatsächlich?«, sagt Vincent. »Ich dachte, die Karibik.«
Nach drei Tagen Fahrt hat die CAIRD gut 200 Seekilometer hinter sich gebracht. Seit wir den Treibeisgürtel vor der Elefanten-Insel durchrudert und in der offenen See Segel gesetzt haben, liegt Drakes Meer im Sonnenschein, und auch ich liege im Sonnenschein auf der Bootsabdeckung, verdöse die zwei Stunden Pause und lasse die Bilder, wie sie kommen, durch meinen Kopf ziehen, rasch und blass, ganz so wie die Wolken am Himmel ostwärts strömen. Wir können im Freien sein, können uns aufteilen. Für die in der Enge unter Deck die gröÃte Erleichterung.
Crean sitzt summend am Steuer. Worsley liest Zahlenreihen im Nautischen Almanach nach. Vincent flickt. Es ist ein Riss im Klüversegel. Drei Mann sind auf Wache, drei ruhen sich aus. Drei Schlafsäcke belegt, drei trocknen im Wind. So geht es Schicht um Schicht, Woge um Woge, die in unserem Rücken heranrollt, das Boot hebt und höher hebt und auf ihrem Kamm voranträgt, bis es ins nächste Tal hinuntergleiten kann. So bedrohlich die Riesenwellen auf den ersten Blick wirken, für uns haben sie längst ihren Schrecken verloren. Ich strecke den Arm über den Bootsrand. Grau, nichts als grau sind die Wogen, grau wie das Buch über Drake. Schon der nannte sie Kap-Hoorn-Roller, und ohne dass ich davon erzählt habe, heiÃen sie so auch für John Vincent.
»Der Erste, der sie durchsegelte, war 200 Jahre später Cook. 1500 Seekilometer in nordöstlicher Richtung überwand die ADVENTURE binnen dreier Wochen. Die Stürme, auf die er in der Passage traf, nannte Cook âºbeeindruckendâ¹. Wer Cooks Sprache kennt, weiÃ, was er damit meinte.«
Worsley sieht von seinem Buch auf. »Beeindruckend«, sagt er, »das ist toll. Wie der alte Schinder wohl unser Vorhaben gefunden hätte?«
Vincent verzieht keine Miene. Doch aus seinen Blicken, die vom Skipper zum Steuermann und zurück wandern, spricht tiefstes Unverständnis. Was Crean und Worsley bezwecken, was sie an meinen KlugscheiÃereien finden, ist ihm ein Rätsel. Er wischt sich mit der Pranke übers Gesicht. Er kommt nicht dahinter.
So schön kann es nicht bleiben. Es ist uns allen klar. Am vierten Tag dreht der Wind. Er kommt aus Süden und treibt zwei Tage lang eisige Böen durch die Wellentäler. Im gefrierenden Nieselregen kann nur derjenige länger im Freien bleiben, der dick eingemummt am Steuer sitzt. 80 Minuten
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