Der eiskalte Himmel - Roman
gestapft, Crean schätzt unsere Höhe auf 1200 Meter und die Temperatur auf unter minus 20 Grad.
Eine wortlose Stunde später endet die Steigung, der Hang fällt langsam ab und schlängelt sich in nordöstlicher Richtung weiter. Unter dem hellgelben Mond folgen wir ihm eine weitere Stunde, froh, dass es bergab geht, und im sicheren Glauben, in Kürze am Horizont das Wasser der Stromness-Bucht zu entdecken. »Da liegt es!«, wird einer von uns rufen, vielleicht sogar ich, und vielleicht werden wir ja nicht nur die Umrisse der Bucht von hier oben erkennen, sondern auch schon die Lampen der Schiffe und Boote, die Lichter der Häuser und die kleinen in der Windstille schnurgeraden Rauchsäulen ihrer Schornsteine!
Stattdessen sind wir zwischen drei und vier Uhr morgens erschöpft, hungrig und durchfroren erneut auf dem Rückweg. Meine Müdigkeit hat sich zu einer Lähmung verhärtet, die es mir unmöglich macht, auÃer den Beinen ein anderes Körperteil zu bewegen. Enttäuscht und voll stummem Grolls gegen jeden Eisklumpen, der aus dem hellblau funkelnden Schnee ragt und zum Darübersteigen zwingt, stapfe ich den beiden hinterdrein, stolpere am Ufer der Fortuna-Bucht entlang, die wir in unserem verzweifelten Eifer für jene von Stromness gehalten haben. Zwar sehen sie sich tatsächlich ähnlich, wie uns Shackleton, der sich entschuldigen zu müssen meint, auf der Karte zeigt. Es gibt eine gröÃere Insel etwa in der Buchtmitte und weitere Orientierungspunkte, auf die er und Crean sich erregt hinwiesen, so vertraut schienen sie ihnen. Doch in Wahrheit kann die Fortuna-Bucht keiner Menschenseele vertraut sein. Sie ist ein trostloser nackter Einschnitt in den Panzer der Insel, ein unbesiedelter menschenleerer Fleck Erde seit jeher. In der Kälte, die mir die Augen verbrennt, muss ich denken: Hier ist nie etwas geschehen. Selbst Cook dürfte die Ufer vom Schiff aus kartographiert haben. Warum sollte man hier auch herummarschieren? Hier ist ja nichts! War Cook so zynisch, den ödesten aller öden Winkel nach der Glücksgöttin zu taufen? Nein, das muss schon so einer wie ich gewesen sein, ein Träumer, sehnsüchtig Ausschau haltend nach Schornsteinqualm und Lichtern, wo nichts als Fels und Eis ist. Wir trotten wieder bergan, folgen unseren FuÃspuren zurück auf das Schneefeld. Es dauert Stunden, und nur ganz allmählich verschwindet die falsche Bucht in unserem Rücken.
Niedergeschlagen, wie wir sind, hat keiner Lust zu reden, und Crean ist das Summen vergangen. Wir stapfen über das Schneefeld, willenlos wie der Mond und müde wie das Leuchten der Sterne im Bild des GroÃen Hundes. Nur Shackleton sagt irgendwann, als das trügerische Wasser hinter einer Gletscherzunge verschwindet: »Die Fortuna-Bucht liegt hinter uns. Das bedeutet nichts anderes, als dass sie nicht mehr vor uns liegen kann.«
Es ist noch beinahe ganz dunkel, als ich mir gegen fünf Uhr morgens eingestehen muss, dass ich nicht weitergehen kann. Die Müdigkeit lässt mich verzweifeln, ich spüre mit jedem Schritt, wie mir die Hoffnung, dass wir Stromness erreichen, ein Stück weiter entgleitet, und zum ersten Mal seit langer Zeit plagt mich die Angst, dass ich keinen von ihnen je wiedersehen werde, weder Bakewell, Worsley und Vincent auf der anderen Seite der Insel, noch Wild, Holness, Clark, Orde-Lees, Greenstreet, Hurley, Green, weder sie und all die anderen auf der Elefanten-Insel, noch meine Eltern, meine Schwester, meinen Bruder, meinen Schwager Herman, weder meine Familie noch den alten Simms, und nie mehr Ennid Muldoon. Einige endlose Minuten lang schleppe ich mich zwischen Crean und Shackleton noch weiter, doch ich merke, wie ich schwanke und immer öfter in böses Taumeln gerate. Der Gedanke bestürzt mich, dass ich gar nicht mehr die Kraft haben könnte, den Mund aufzumachen und eine Pause zu fordern, und die Panik, die sich daraufhin in mir breit macht, lässt mich für Minuten keuchend mit vor Entsetzen aufgerissenem Mund weiterstapfen.
In einer Felsennische unterhalb einer weiteren tief verschneiten Kammlinie komme ich wieder zu mir. Creans zerschlissener Fellhandschuh streicht mir über die Stirn. Shackletons Haar muss so lang sein wie das meiner Mutter, denn es fällt ihm über beide Wangen aus der Kapuze, als er mir mit vor Sorge finsterem Blick einen halben Becher Milch und einen Zwieback aufnötigt, die ich
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