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Der eiskalte Himmel - Roman

Der eiskalte Himmel - Roman

Titel: Der eiskalte Himmel - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Main> Schöffling & Co. <Frankfurt
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zu summen und spricht es aus: »Es ist kein See.«
    Und der Sir zückt die Karte und faltet sie auseinander. »Ja, Tom, du hast leider Recht. Die Uferlinien stimmen. Es ist die Possession-Bucht. Es ist der verfluchte Ozean.«
    Vier große Buchten verzeichnet die Karte in nordöstlicher Richtung: Possession-Bucht, Antarktis-Bucht, Fortuna-Bucht und, als Einzige besiedelt, die Bucht von Stromness, unser Ziel. Dazwischen besteht die Küstenlinie aus nichts als vergletscherten Felswänden, Klippen und Riffs. Auch wenn wir nach nur zwölf Kilometern Fußmarsch die Insel an einer ihrer schmalsten Stellen durchquert haben, nützt uns nichts. Von der verlockenden weißen Ebene zu unseren Füßen führt kein Weg zu Kapitän Sørlles Station.
    Wir kehren um und steigen den Gletscherhang wieder hinauf. Crean wechselt nach vorn, Shackleton ans Seilende. Und ich zwischen den beiden frage ich mich, ob denn wohl Scott den Abstieg zur Bucht riskiert hätte oder ob er genauso umgekehrt wäre.
    Wäre er noch am Leben, komme ich vor mich hin stapfend zum Schluss, und gäbe es einen Wettlauf gegen Shackleton zur Bucht von Stromness, dann wäre Scott niemals umgekehrt! Scott hätte sich, wie Dafydd sagen würde, eher eine Hand abgehackt und dann, die Axt zwischen den Zähnen, auch noch die zweite.
    Warum redet Crean nie von Scott? Ich kann mir einen Drake und einen Cook, Männer, die Jahrhunderte tot sind, besser vorstellen als diesen vor vier Jahren Erfrorenen, und das, obwohl ich sein Tagebuch kenne und glaube, seine Stimme zu hören, wenn ich lese: »Die ganze Quälerei – wofür? Für nichts als Träume, die jetzt zu Ende sind.« Wo habe ich gelesen, dass er, mit zwei anderen Männern allein in der Hütte am Rossmeer, zu dem einen gesagt haben soll: »Sie und der Idiot machen jetzt das und das«? Wobei derjenige, mit dem Scott nicht sprach, angeblich Shackleton war.
    Endlich, nach sechs Stunden ununterbrochenen Fußmarschs, legen wir gegen neun Uhr die erste Rast ein. Im Morgenlicht ragt ostwärts genau auf unserer Route eine kleine Bergkette in die Höhe. Mit ihren vier durch fast waagrechte Kämme verbundenen Gipfeln sieht sie wie die Knöchel einer geballten Faust aus. Am Fuß des Schneehangs, der zum ersten Kamm führt, graben wir ein Loch in das Eis, stellen den Primuskocher hinein und rühren eine Mischung aus Schlittenration und Zwieback zusammen, die wir noch glühend heiß essen. Eine halbe Stunde darauf sind wir wieder unterwegs. Als der Hang zu steil wird, um uns auf Händen und Füßen durch den Schnee nach oben zu arbeiten, schlagen wir abwechselnd alle anderthalb Meter eine Stufe ins Eis.
    Shackleton ist der Erste, der kurz vor Mittag über den Kamm auf die andere Seite blickt. Nacheinander winkt er Crean und mich zu sich. Auf allen vieren krabbele ich durch den Schnee hinauf bis zur Kammlinie und sehe hinüber.
    Es führt kein Weg hinab. Wie die Däumlinge auf Gullivers Scheitel liegen wir bäuchlings auf einem fast senkrecht abfallenden Felsen, und links und rechts die nackten blaugrauen Steilhänge sind mit Eisbrocken übersät, die von unserem Aussichtspunkt aus abgebrochen und in die Tiefe gestürzt sein müssen. Bis zum Meer erstreckt sich ein unpassierbares Gelände aus Schründen und Gletscherspalten.
    Dagegen landeinwärts in östlicher Richtung macht Crean mit dem Fernglas einen weich ansteigenden und ebenmäßig nur von Schnee bedeckten Hang aus. Shackleton schätzt, dass er etwa 14 Kilometer weit ins Inselinnere führt, er gibt das Fernglas mir und sagt: »Das ist der Weg. Ganz gleich, wie wir es anstellen, vor Einbruch der Dunkelheit müssen wir unten sein. Versuchen wir es über den zweiten Kamm. Trauen Sie sich zu, voranzugehen, Merce? Dann los, laufen wir zurück.«
    Ich muss nur den Stufen folgen und dann, weiter unten, unseren Fußstapfen. Nach einer guten Stunde habe ich uns sicher zum Fuß des Hangs geleitet. Die Luft ist klar und kalt, der Nachmittag bricht an. Es weht kaum Wind. Doch dass hier sonst die Stürme spielen und dabei nicht zimperlich sind, sehen wir, als ich uns zwischen überhängenden Eisklippen und der Randspalte eines Gletschers hindurchführe. Der Weg ist der richtige, und doch rast mir das Herz, als ich als Erster eine sensenförmige Rinne passiere, die bestimmt an die 300 Meter tief und mehrere Kilometer

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